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Beweise für spätere Strafanzeige Wie Opfer von Gewalt und Missbrauch in Kliniken anonym Spuren sichern lassen können

Betroffene von Missbrauch und Gewalt können in Sachsen-Anhalt jetzt vertraulich Spuren in Kliniken sichern lassen, um auch Jahre später noch Strafanzeige bei der Polizei zu erstatten. Die Krankenkassen zahlen die Untersuchung - das sichert ein neuer Vertrag zu.

Von Jan Schumann 18.10.2024, 14:45
Viele Betroffene von Gewalt und Missbrauch trauen sich nicht sofort, den Schritt zur Polizei zu gehen. Sie können nun bei Ärzten Spuren sichern lassen, sie werden über Jahre aufbewahrt.
Viele Betroffene von Gewalt und Missbrauch trauen sich nicht sofort, den Schritt zur Polizei zu gehen. Sie können nun bei Ärzten Spuren sichern lassen, sie werden über Jahre aufbewahrt. (Foto: Fabian Sommer/dpa)

Halle/Magdeburg/MZ - Dieses neue Netzwerk soll Gewalt-Betroffene in Sachsen-Anhalt auffangen, die nicht sofort den Schritt zur Polizei wagen: Opfer von Missbrauch und häuslicher Gewalt können schon bald eine ganze Reihe von Ärzten im Land aufsuchen, um gerichtsfest Gewaltspuren sichern zu lassen – und das quasi-anonym, ohne zuvor Strafanzeige bei der Polizei erstatten zu müssen.

„Wir wollen so vielen Gewaltopfern wie möglich helfen, auch wenn wir nie alle erreichen werden“, betonte Carolin Richter, Oberärztin des halleschen Instituts für Rechtsmedizin, am Freitag in Magdeburg. In der Landeshauptstadt unterzeichneten die gesetzlichen Krankenkassen, die Rechtsmedizin Halle und das Landesgesundheitsministerium am Freitag einen neuen Vertrag: Die Kosten für solche Missbrauchsuntersuchungen übernehmen künftig die Kassen. Ähnliche Regelungen gibt es erst in vier weiteren Ländern.

Studien belegen: Viele Betroffene von Gewalt suchen sich keine Hilfe

Der Gedanke dahinter: Viele Missbrauchsopfer – meist sind es Frauen – trauen sich nicht, den Schritt zur Polizei zu gehen. „Es gibt eine nicht unwesentliche Zahl von Frauen, die sich keine Hilfe sucht“, sagte Richter. Eine neue Studie aus Sachsen habe 2023 belegt, dass Betroffene von Vergewaltigungsversuchen in drei von vier Fällen aus Scham keine Hilfe suchten. Gut jede zweite Frau gab an: „Ich dachte, mir glaubt niemand.“ Laut Richter gibt es auch Fälle, in denen Gewaltopfer der Polizei nicht trauen. Andere Betroffene von Missbrauch würden ihre Partner oder Familie von Polizeiermittlungen verschonen wollen, so die Ärztin.

Carolin Richter, Oberärztin am Institut für Rechtsmedizin Halle.
Carolin Richter, Oberärztin am Institut für Rechtsmedizin Halle.
(Foto: Jan Schumann)

In solchen und ähnlichen Fällen soll das neue Netzwerk ansetzen. Betroffene von Missbrauch und häuslicher Gewalt müssten „häufig erst zur Ruhe kommen, bevor sie ihre Rechte wahrnehmen und Anzeige erstatten“, betonte Sachsen-Anhalts Sozialministerin Petra Grimm-Benne (SPD). „Es kostet Mut und Kraft, sich zur Wehr zu setzen.“

Die am Freitag vereinbarte „vertrauliche Spurensicherung“ soll quasi-anonym ablaufen. Betroffene sollen spezielle Kliniken oder Ärzte aufsuchen, diese sichern dann Missbrauchsspuren wie Kratzer, Prellungen und DNA nach einer Standardprozedur. Weder die Polizei noch die Krankenkasse des Gewaltopfers erfahren von dieser konkreten Spurensicherung – die Abrechnung bei den Kassen soll anonym funktionieren.

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Laut Oberärztin Richter können die Spuren über Jahre sicher aufbewahrt werden, um vor Gericht als Beweismittel genutzt werden zu können. Auch aus Sicht der Krankenkassen ist das neue Netzwerk ein Fortschritt für Gewaltbetroffene. „Bisher war das System andersrum“, sagte Kay Nitschke von der AOK. Eine Strafanzeige sei die Grundlage für die Spurensicherung beim Arzt gewesen. „Aber die sichtbaren Spuren sind irgendwann verschwunden“, so Nitschke.

Netzwerk der Kliniken und Ärzte soll schnell wachsen

Für eine vertrauliche Spurensicherung können sich Betroffene bereits jetzt an die Rechtsmedizin der Universitätskliniken in Halle und Magdeburg wenden. Oberärztin Richter kündigte an, ab sofort werde das Netzwerks fähiger Kliniken und Ärzte ausgebaut. In den kommenden Monaten sollen deutlich mehr Mediziner im Land die Spurensicherung anbieten, auch außerhalb der Großstädte. „Vorgesehen sind so viele Anlaufstellen wie möglich“, so Richter.

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Denn nur wohnortnahe Angebote würden den Betroffenen wirklich helfen. „Sich nach eine Gewalterfahrung in einen Bus zu setzen, das ist für die meisten Frauen utopisch.“ Vier Krankenhäuser im Land hätten Richter bereits die Zusage gegeben, dem Netzwerk beizutreten. „Ich bin mit weiteren Krankenhäusern im Gespräch. Es soll so flächendeckend wie möglich sein.“ Erste Verträge sollen noch dieses Jahr unterschrieben werden, das Personal werden dann entsprechend geschult, so Richter.

Experten gehen von Hunderten Untersuchungen im Jahr aus

Geht es nach neuesten Einschätzungen der Rechtsmedizin Halle, dürften ab sofort Hunderte Untersuchungen pro Jahr zur Spurensicherung stattfinden. Allein in Halle und Magdeburg sei jährlich jeweils von 150 Fällen auszugehen, so die Experten.

Um die Beweise für Gewalt gerichtsfest über Jahre sichern zu können, werden die Netzwerk-Kliniken künftig mit speziellen „Spurensicherungskits“ ausgestattet. „Wir dokumentieren auch millimeterkleine Kratzer und Verletzungen, für die andere Ärzte gar keine Zeit haben“, betonte Rüdiger Lessig, Chef der Gerichtsmedizin. Richter ergänzte: „Je schneller man sich beim Arzt vorstellt, desto besser.“ Als Faustregel gelte, dass fremde DNA-Spuren etwa drei bis fünf Tage lang dokumentierbar seien.