Tragödie von Genthin Tragödie von Genthin: Beim schwersten Zugunglück Deutschlands sterben fast 300 Menschen
Genthin - Pünktlich um 23.15 Uhr verlässt der D-Zug D10 Berlin in Richtung Köln. Es ist Donnerstag, der 21. Dezember 1939, die Sicht auf der Strecke ist schlecht, der Zug völlig überfüllt. Deutschland befindet sich im Krieg und viele der Männer, Frauen und Kinder in den Waggons wollen kurz vor Weihnachten zu ihren Familien. Doch die meisten werden weder ihre Heimat noch ihre Angehörigen wiedersehen. Sie sterben eine Stunde und 40 Minuten später kurz vor dem Bahnhof von Genthin (Jerichower Land), als der nachfolgende, ebenfalls völlig überfüllte D180 auf dem Weg von Berlin ins saarländische Neunkirchen ungebremst mit etwa 100 Kilometer pro Stunde in den stehenden Zug hineinrast. Es ist bis heute das schwerste Eisenbahnunglück in Deutschland. Zwei Tage vor Heiligabend kommen 278 Menschen ums Leben, 453 werden verletzt.
Tragödie von Genthin: Lokführer übersieht Signal
Es ist eine Verkettung menschlichen Versagens und unglücklicher Umstände, die zur Katastrophe führen. Durch das Aus- und Einsteigen vieler Fahrgäste in Potsdam und Brandenburg sowie durch einen vor ihm fahrenden langsamen Militärzug summierte sich die Verspätung des pünktlich gestarteten D10 bis Genthin auf etwa 27 Minuten. Der nachfolgende D180 war eine halbe Stunde später von Berlin aus auf gleicher Strecke losgefahren, er stoppte nur kurz in Potsdam. So verringerte sich der Abstand zwischen den beiden Zügen schnell.
Unmittelbar vor Genthin nahe dem kleinen Ort Kade (Jerichower Land) übersieht der Lokführer des D180 ein Vorsignal und fährt in den für ihn eigentlich gesperrten Streckenabschnitt. Auch das kure Zeit später folgenden Haltesignal überfährt er. Die Sicherheitstechnik der elektro-induktiven Anlage (Indusi), die nach einem Fehler eine automatische Zwangsbremsung auslöst und die es auch vor 80 Jahren schon gab, fehlt in der Dampflokomotive des D180. Sie ist zu Reparaturzwecken ausgebaut worden.
Zugunglück von Genthin: Rettern bietet sich ein Bild des Grauens
Der Schrankenwärter in Kade greift zum Telefon und meldet nach Genthin den durchgefahrenen D180. Doch hier passiert ein weiterer fataler Fehler: Der informierte Kollege will den heranrasenden D180 mit einem Notsignal, einer roten Handlampe, zum Stehen bringen. Doch in dem Augenblick passiert erst der vorausfahrende D10 die Stelle - und dessen Lokführer bezieht das Stoppsignal auf sich und bringt gegen 0.51 Uhr seinen Zug mit einer Schnellbremsung zum Halten. Für einen allerletzten Versuch, den nachfolgenden D180 mit Knallkapseln auf den Schienen zu bremsen, bleibt keine Zeit mehr. Das Unglück nimmt seinen Lauf: Um 0.55 Uhr rast der D180 mit unverminderter Geschwindigkeit in den vor ihm stehenden D10.
Den Rettern bietet sich ein Bild des Grauens. Durch den Aufprall werden die vier hinteren Waggons des stehenden D-Zuges in- und übereinander geschoben. Die 169 Tonnen schwere, aufgefahrene Lok gleitet nach links ab und stürzt um. Der Tender, der Vorratswagen der Dampflokomotive des D 180, in dem Brennmaterial und Wasser mitgeführt werden, legt sich über den Zug vor ihm.
Zugunglück von Genthin: Schwierige Rettungsarbeiten
„Wir haben nur einen lauten Knall gehört“, erinnert sich Dieter Rohr aus Genthin, der damals acht Jahre alt war. Als der Zeitzeuge am nächsten Morgen an die Unglücksstelle kommt, ist das Grauen fassbar. „Man hat den Trümmerhaufen gesehen, ein Gewühl von Menschen, die noch vor Schmerzen schrien.“ Die Rettungsarbeiten gestalten sich schwierig und dauern eine ganze Woche an. Wegen der nächtlichen Verdunkelung in Kriegszeiten verhindern Blenden der Notbeleuchtung nicht nur eine Lichtabstrahlung nach oben, sondern tauchen auch die Einsatzstelle in blasses Licht. Eine Besserung bringen erst die Scheinwerferkegel eilig herbeigeholter Autos. Die Zahl der verfügbaren Retter ist begrenzt, weil viele Männer zum Kriegsdienst eingezogen sind. Zudem sinken die Temperaturen in der Nacht auf minus 15 Grad Celsius. Außerdem: Die Freiwillige Feuerwehr in Genthin ist auf einen derartigen Großeinsatz nicht vorbereitet. Hier gibt es nur einen einzigen Krankenwagen mit Platz für zwei Tragen, der nun ständig zwischen der Unfallstelle und dem Genthiner Johanniter-Krankenhaus hin- und herpendeln muss. Verletzte werden zum Teil mit privaten Autos in umliegende Kliniken transportiert, dort operieren sie Ärzte rund um die Uhr.
Tragödie von Genthin: Helfern fehlt Ausrüstung
Auch fehlt vor Ort die notwendige Ausrüstung, obwohl alle Helfer ohne Unterbrechung im Einsatz sind. Staatliche Stellen reagieren schwerfällig, ein Eisenbahnkran muss aus dem fernen Bremen herbeigeschafft werden, erst nach dem Eintreffen von Hilfszügen aus Magdeburg können Opfer mittels Schneidbrenner befreit werden. Für einen Großteil von ihnen kommt jedoch jede Hilfe zu spät, eingeklemmte und unversorgte Verwundete verbluten oder erfrieren. Die wenigen Überlebenden können oft erst nach Tagen aus dem Gewirr von Metall und Holz befreit werden.
Direkt nach dem Unglück spricht die Deutsche Reichsbahn von nur 186 Toten und 106 Verletzten. Doch in den folgenden Tagen müssen die Opferzahlen intern ständig nach oben korrigiert werden. Das jüngste Opfer war gerade einmal ein Jahr alt. Die Identifizierung gestaltet sich schwierig, denn damals besteht noch keine Ausweispflicht. Ganz dreist benehmen sich Mitarbeiter einer Berliner Bestattungsfirma: Sie nehmen den Leichen, die in einer Turnhalle und im Schützenhaus liegen, Ringe ab und schlagen die Goldzähne aus. Sechs Täter werden im Februar 1940 hingerichtet.
Tragödie von Genthin: Zeitungen berichten nur zurückhaltend über Unglück
Die Zeitungen berichten 1939 nur zurückhaltend über das Unglück, Zahlen werden aus Geheimhaltungsgründen überhaupt nicht veröffentlicht. In offiziellen Mitteilungen und Statistiken wird die Tragödie, wenn überhaupt, nur beiläufig erwähnt. Deshalb bleibt für die Öffentlichkeit auch lange unklar, wie es zu dem Unglück kommen konnte.
Wirklich Licht in das Dunkel der Umstände, die zur Katastrophe führten, bringt auch der Prozess gegen den Lokführer des D180 nicht, der das Unglück überlebte. Warum er die Signale in der Stellung „Freie Fahrt“ erkannt haben will, kann er nicht erklären. War er von giftigen Kohlenmonoxid-Gasen beeinträchtigt und nicht voll handlungsfähig? Hatte seine Konzentration nach 14 Stunden Dienstzeit vor dem Unglück nachgelassen? Geklärt wird das auch im Prozess nicht. Der Lokführer wird 1940 zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. (mz)