Anschlag in Halle „Er hat uns aus dem Leben geschossen“: Opfer des Halle-Attentats leiden noch heute
Der Terroranschlag vom 9. Oktober 2019 in Halle hatte viele Opfer. Manche konnten das Trauma von damals verarbeiten. Andere leiden weiter oder gingen daran zugrunde. Die Geschichten eines eingesetzten Polizisten und eines Paares, das vom Attentäter verletzt wurde.
Halle (Saale)/MZ. - Das Leiden eines Menschen zeigt sich manchmal in den kleinen Dingen, in den Details, die kaum auffallen. Als Dirk F. am 16. September 2020 im großen Saal des Landgerichts Magdeburg als Zeuge aussagt, redet er leise. Viel leiser, als man das von einem Polizeiobermeister erwarten würde. Seine Worte sind schwer zu verstehen. Er spricht wie jemand, der nicht sprechen will, weil ihn das, was er sagt, an genau das erinnert, was er lieber vergessen würde.
Attentat-Attentag hat Dirk F.s Leben verändert
Dirk F. ist im vergangenen Jahr gestorben. Seine genaue Todesursache ist öffentlich nicht bekannt. Sicher ist jedoch, dass die Geschehnisse, über die er an diesem Septembertag 2020 in Magdeburg berichten musste, sein Leben verändert hatten. Verhandelt wurde damals gegen Stephan B., der am 9. Oktober 2019 einen antisemitischen Anschlag in Halle und Umgebung verübte und zwei Menschen tötete. Auch Dirk F. geriet mit zwei Kollegen ins Visier des Attentäters. Er ist eines der vielen Opfer der extremistischen Tat.
Wie es Betroffenen nach dem 9. Oktober 2019 ergangen ist, hat die MZ versucht, in den vergangenen Wochen nachzuvollziehen. Namentlich wollte dabei keiner der Gesprächspartner genannt werden. Das Innenministerium wollte sich zu Betroffenen aufgrund des Persönlichkeitsschutzes nicht äußern. Was in den Gesprächen dennoch deutlich wurde: Während manche das Trauma verarbeiten konnten, litten andere weiter.
Bei Dirk F. war das bis zu seinem Tod mit 53 Jahren so. Und noch heute kämpfen Dagmar M. und Jens Z., die in Wiedersdorf (Saalekreis) vom Attentäter angeschossen wurden, nicht nur mit den Erlebnissen von vor fünf Jahren, sondern auch mit Gutachtern und Bürokratie.
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Das Familiäre bei der Polizei fiel weg
Dirk F. war seit 1988 Polizeibeamter. Erst bei der Bereitschaftspolizei, dann, ab 1994, im Streifendienst. Immer auf der Straße, immer im Kontakt mit Opfern wie Tätern, erlebte er viele Veränderungen bei der Polizei. Nicht nur die Reformen, die mit dem Mauerfall kamen. „Auch danach musste regelmäßig alles neu erfunden werden“, sagt ein Polizist, der in Halle eine Zeit lang Dirk F.s Vorgesetzter war.
Früher habe es zum Beispiel feste Schichten gegeben. „Man hatte immer die gleichen Kollegen.“ Die Teams seien eingespielt gewesen. „Wir kannten uns, konnten auch einschätzen, wenn es dem Anderen mal nicht gut ging.“ Die Dynamisierung der Einsatzpläne habe das geändert. Feste Rhythmen und Schichten gebe es heute kaum noch. „Es fiel ein bisschen das Familiäre weg, was insbesondere die älteren Kollegen, die das noch kannten, belastete.“
Hinzu kamen Phasen, in denen Personal abgebaut wurde, was mit einer Arbeitsverdichtung einherging. „Das verkürzte auch die Zeit, in der man über die Erlebnisse im Dienst sprechen konnte“, sagt ein Polizist. Dirk F., so schätzt es ein anderer Beamter ein, hat in seinen Dienstjahren mindestens 40 bis 50 Leichen gesehen – und nicht nur die, die natürlichen Todes gestorben sind. Als Polizist arbeite man oft an den Abgründen der Gesellschaft. „Und acht von zehn Menschen, mit denen wir es zu tun haben, sind ja keinesfalls glücklich damit, dass sie mit uns zu tun haben.“ Die Täter nicht und oft auch die Opfer nicht, die mitunter überzogene Erwartungen – etwa bei der Geschwindigkeit – hätten.
Seelische und soziale Belastung
Diese Mischung aus seelischer und sozialer Belastung könne über die Jahre zu einem großen Ballast werden, meint ein Polizist: „Und wer dann kein gefestigtes Umfeld hat, niemand, mit dem er reden kann, der greift vielleicht zu einer Flasche Bier und wenn es dann so wirkt, als helfe das, ist es beim nächsten Mal eine Flasche mehr“.
Die Polizisten stellten sich dem Attentäter in den Weg
Dass Dirk F. Schwierigkeiten hatte, die Erlebnisse im Dienst zu verarbeiten, legen mehrere Gespräche nahe. Der Einsatz am 9. Oktober 2019 wirkte dabei wohl zusätzlich traumatisierend. Der Polizeiobermeister gehörte mit zwei jüngeren Kollegen zu den ersten Beamten, die auf Stephan B. trafen. Auf der Ludwig-Wucherer-Straße, wo der Attentäter im Kiez Döner Kevin S. erschossen hatte, stellten sie sich ihm in den Weg. Dirk F. blieb auf der Rückbank im Wagen, weil er keine Ausrüstung und auch keine Zusatzausbildung für lebensbedrohliche Einsatzlagen hatte. Er hörte, wie Stephan B. mehrmals schoss und er sah durch das Fenster, wie sein Kollege mit der Maschinenpistole zurück feuerte. Vier Einschusslöcher wurden später im Streifenwagen festgestellt.
Vor Gericht berichtete Dirk F, dass er nach dem Einsatz unter Schlaflosigkeit, Herzrasen und einer posttraumatischen Belastungsstörung litt. Personen, die seine persönlichen Umstände kannten, sagen, er habe zurückgezogen gelebt. Im Juni 2020 brannte seine Wohnung, die er kaum noch in Ordnung halten konnte, ab. Beteiligten zufolge wollte er damals erst nicht aus den Flammen gerettet werden. „Früher war ich immer ein lustiger Typ“, sagte F. im Gerichtssaal, „seit dem Einsatz ist das nicht mehr der Fall.“
Seelsorgerin begleitete den Beamten
In Sachsen-Anhalt gibt es Routinen, die greifen, wenn Beamte Krisensituationen erleben. Sie werden dann von einem Interventionsteam betreut. Auch bei Dirk F. war das der Fall. Alle Polizisten, mit denen die MZ sprach, bestätigen diese Versorgung. „Um Betroffene wird sich gekümmert“, meint ein Beamter. Dirk F. gab auch vor Gericht an, dass er in Betreuung sei. Eine Seelsorgerin begleitete ihn damals sogar. Mit dem Prozess Vertraute sagen jedoch auch, dass der Polizist Unterstützung eher abgelehnt habe. „Es wirkte schon so, als ob er nicht wollte, dass ihm jemand hilft.“
Posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert
Anders soll es bei den beiden jüngeren Kollegen von Dirk F. gewesen sein. Auch sie gaben an, nach dem Einsatz unter Schlafstörungen und Erschöpfung zu leiden. Bei beiden wurde auch eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert, die sie therapierten. Noch heute arbeiten sie bei der Polizei – wenn auch nicht mehr im Streifendienst. „Es wird viel getan, um traumatisierte Kollegen zu unterstützen“, sagt ein Polizist. „Aber leider kann man wohl nicht jeden retten, nicht jedem aus seinem Unglück helfen.“
Hilfe – die wünschen sich auch Dagmar M. und Jens Z. „Wir wären aber schon froh, wenn man uns endlich als Opfer anerkennt“, sagt das Paar aus Wiedersdorf. In dem Saalekreisort strandete der Attentäter auf der Flucht mit seinem kaputten Auto. Als er einen neuen Wagen erpressen wollte, traf er auf Dagmar M. und Jens Z. Er schoss, traf Jens Z. am Hals und Dagmar M. in Rücken und Bein. Dann wollte er noch einmal schießen. „Er hielt mir die Waffe ins Gesicht“, erinnert sich Dagmar M. Die Pistole klickte nur. Dann habe er keine Patronen mehr gehabt. „Deswegen haben wir überlebt.“
„Wir haben Angst rauszugehen“
Die Augenblicke damals, so erzählt es Dagmar M., hätten das Paar noch heute im Griff. Sie habe täglich Schmerzen, ihr Mann ständig ein geschwollenes Gesicht, weil der Steckschuss wohl Lymphgefäße verletzt hat. Auch die seelischen Wunden seien tief – zu tief, um überhaupt zu heilen. „Wir haben Angst, rauszugehen, kein soziales Umfeld mehr und sehen eigentlich nur noch unseren Anwalt und die Therapeuten.“ Beim Friseur, sagt M., sei sie seit fünf Jahren nicht mehr gewesen. „Ich halte es nicht aus, wenn jemand hinter mir steht.“
Opfer mussten ihre Arbeit aufgeben
Ihre Arbeit in einer Logistikfirma und bei einem Rechtsanwalt mussten sie aufgeben. Seit 2020 sind beide EU-Rentner. „Eigentlich steht uns noch Opferentschädigung zu“, sagt Dagmar M. Die bekommen Betroffene, die in Deutschland unverschuldet Gewalt erfahren haben. „Da geht es nicht um Millionen Euro Schmerzensgeld, wir wollen nur bekommen, was wir vorher als Gehalt hatten.“ Bis auf eine Soforthilfe in Höhe von 5.000 Euro, die alle Opfer des Attentäters bekamen, gab es bisher jedoch keine Zahlungen. „Selbst den Treppenlift, den ich im Haus wegen meiner Beinverletzung brauche, hat der Weiße Ring besorgt.“
Empörendes Gutachten
Das Landesverwaltungsamt, das die Anträge bearbeitet, lässt sich jedoch Zeit. Eine ärztliche Begutachtung des Paares fand erst im März 2023 statt. Was in der Einschätzung steht, empfinden die Wiedersdorfer als zutiefst empörend. „Der Arzt kommt zu dem Schluss, dass unsere Verletzungen, unsere Leiden, unser Schmerz nur eingebildet sind“, sagt Dagmar M. „Wir werden im Gutachten als Simulanten bezeichnet.“ Eigentlich, sagen die Beiden, haben sie keine Kraft mehr. Sie fühlen sich zermürbt. „Aber wir können das auch nicht auf uns sitzen lassen.“ Sie gehen nun gerichtlich gegen das Land vor. Für Mitte Oktober ist eine zweite Begutachtung angesetzt.
Auf MZ-Anfrage bestätigt das Sozialministerium, dass es eine Klage gibt und Dagmar M. und Jens Z. eine Opferentschädigung bekommen haben. „Mit Blick auf den Datenschutz und das laufende gerichtliche Verfahren“ wolle man jedoch keine weiteren Angaben machen, so ein Sprecher.
Fünf Jahre nach dem Anschlag, der im größten Gerichtsprozess Sachsen-Anhalts minuziös nachgezeichnet wurde, kämpfen zwei der Opfer von damals noch immer. Dieser Tag lasse sie einfach nicht in Ruhe, sagt Dagmar M. So sei es vielleicht auch Dirk F. gegangen. „Der Attentäter hat uns zwar nicht erschossen, er hat uns aber aus dem Leben geschossen.“