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Streit um Wokeness Star Wars um den Genderstern: Ein Kulturkampf in Deutschland

Gendersterne, Personalpronomen und unversöhnliches Unverständnis. Die Psychologin Esther Bockwyt erklärt, wie die Woke-Ideologie die Welt besser machen wollte und am Ende doch nur die gesellschaftliche Spaltung vertieft hat.

Von Steffen Könau Aktualisiert: 14.07.2024, 12:57
Ein überdimensionales Graffiti-Gemälde in Halle scheint den Streit um Wokeness zu illustrieren: Der eine sieht die Welt so, der andere genau andersherum.
Ein überdimensionales Graffiti-Gemälde in Halle scheint den Streit um Wokeness zu illustrieren: Der eine sieht die Welt so, der andere genau andersherum. Foto: Steffen Könau

Halle/MZ. - Für den Fußball-Bundesligisten Werder Bremen war es nur ein weiterer „kleiner, aber wichtiger Schritt“ hin zu einer gendersensibleren Sprache. Zur neuen Saison, kündigte der Tabellen-Neunte der letzten Saison an, werde der Verein „in der gesamten Kommunikation das Genderzeichen“ verwenden.

Kein weiterer Meisterstern auf dem Trikot, aber ein Sternchen in jedem Wort, das so alle Geschlechter meinen soll. „Die positiven Effekte sind hinlänglich untersucht worden“, hieß es in der offiziellen Mitteilung des Klubvorstandes. Sie zeigten, „dass durch die Nutzung geschlechtersensibler Formulierungen Frauen sowie queere Menschen mehr mitgedacht werden“.

Es dauerte nur Minuten, bis die Wellen der Empörung hochschlugen. „Ein Aprilscherz im Juli“, kommentierte ein Nutzer beim Kurznachrichtenportal X. Ein anderer wies darauf hin, dass „im Männerfußball gar keine Spieler*innen auf dem Platz“ stehen. Der überwiegende Teil der übrigen mehr als 2.000 Kommentare fiel eher gröber aus: „Ihr habt nicht mehr alle Tassen im Schrank“, „Absteiger“ und „Verblödung im Endstadium“ schrieben Leute, die sich bis dahin überwiegend nie zu den fußballerischen Erfolgen und Misserfolgen des Meisters von 2004 geäußert hatten.

Aufregung um ein Symbol

Dieser Stern aber ist anders. Dieser Stern erregt, empört und treibt selbst Menschen auf die Palme, die sich im Alltag weder für Rechtschreibexperten halten noch sich für Fußball oder den aktuellen Erkenntnisstand in der Geschlechterforschung interessieren. Selbst der Umstand, dass Werder Bremen bisher schon nach den Empfehlungen der sogenannten feministischen Linguistik einen Doppelpunkt verwendet hatte, um zum Beispiel alle Spieler oder Zuschauer als „Spieler:innen“ und „Zuschauer:innen“ einzubeziehen, spielte keine Rolle mehr.

Der Genderstern − ein typografisches Symbol namens Asterisk, das weder Buchstabe ist noch Satzzeichen − hatte einmal mehr einen wahren Sternenkrieg ausgelöst. Hier die, die ihn für unerlässlich halten. Dort die, die sich gegängelt fühlen, die Sprache verhunzt sehen und sich von einer Elite ins Abseits gestellt wähnen, die sich für „woke“ hält.

Esther Bockwyt ist Psychologin und auf Narzissmus spezialisiert.
Esther Bockwyt ist Psychologin und auf Narzissmus spezialisiert.
Foto: Paul Wiesmann

Woke? Der englische Begriff, der in der deutschen Google-Suche ebenso wie im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ vor 20 Jahren noch nicht auftauchte, hat eine erstaunliche Karriere gemacht. „Woke“, zu Deutsch so viel wie „aufgewacht“, taucht heute im Durchschnitt zweimal wöchentlich im „Spiegel“ auf. In deutschsprachigen Büchern hat sich die Verwendung der Vokabel zwischen 2009 und heute nach den Daten des Google-Ngram-Viewers verfünffacht. Die Google-Suchstatistik zeigt einen Anstieg des Interesses von Null auf Hundert in den zurückliegenden zehn Jahren.

Wokesein wird hier stolz präsentiert und dort zähneknirschend kritisiert. Worum aber geht es eigentlich? Was ist dieses „Woke“, was soll es, was steckt dahinter? Hat es mit politischer Korrektheit zu tun? Mit zu vermeidenden Worten wie „Indianer“ oder „Flüchtling“ oder „Zigeunersoße“? Mit kultureller Aneignung in Form von Karnevalskostümen und Rastafrisuren? Und ist das alles?

In einem Buch, das der Einfachheit halber heißt wie das Thema, mit dem es sich befasst, versucht die Psychologin Esther Bockwyn jetzt, die bunte Welt der „Wokeness“ zu erklären, von der so viel die Rede ist. Ohne dass viele wissen, worum es bei dem „Kulturkampf“ geht, wie die aus dem Ruhrgebiet stammende Expertin für Verhaltensstörungen die Ideologie nennt, „der man sich scheinbar nicht verweigern kann“.

Erfindung eines Bluessängers

Bockwyt, spezialisiert auf Narzissmus, als forensische Gutachterin tätig und nebenher mit einem eigenen Podcast namens „Psycho-Logisch“ erfolgreich, erkundet den Aufstieg der Wachsamkeitsideologie vom Ursprung an.

Der findet sich an den großen US-Universitäten, an denen der vor fast 100 Jahren vom Bluessänger Leadbelly in einem Liedtext geprägte Begriff in den zurückliegenden Jahren zunehmend Verbreitung fand. Mit den Black Lives Matter-Protesten wurde „woke“ schließlich zur Chiffre im Kampf für Vielfalt, Geschlechtergerechtigkeit und Toleranz: Woke zu sein heißt, sich als weißer, wohlsituierter Mensch seiner Privilegien bewusst zu werden und die eigene gesellschaftliche Stellung kritisch zu hinterfragen.

Statt sein Anderssein als Transsexueller, Schwarzer oder Angehöriger einer anderen Minderheit zu verstecken, stellen Mitglieder der LGBTQI+-Gemeinschaft, ins Deutsche übersetzt lesbisch, schwul, bisexuell, trans, queer, intersexuell und asexuell, ihre Lebensweise selbstbewusst aus.

In den USA, die wegen der englischen Sprache weitgehend daran gehindert sind, Gendersternchen zu verwenden, um geschlechtergerecht zu schreiben und zu sprechen, geben sich Menschen beispielsweise Pronomen, um ihre Identität zu verdeutlichen. Diese „Gender Pronouns“ zeigen die Zugehörigkeit zu einer Gruppe an, signalisieren aber auch, dass der Betreffende diese Verdeutlichung seiner Selbstwahrnehmung nach außen als wichtig empfindet.

Werkzeug der Gerechtigkeit

Eine Idee, gegen die sich kaum etwas einwenden lässt. Dennoch sind ihre Folgen oft ganz andere als die, die ursprünglich bezweckt worden waren. Esther Bockwyt beschreibt detailliert, wie der Versuch, Minderheiten und marginalisierten Gruppen mehr Aufmerksamkeit und damit Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, umso mehr auf Ablehnung stößt, je nachdrücklicher er betrieben wird.

Da Wokeness die Welt in Gruppen einteilt, die mehr oder weniger oder gar nicht benachteiligt sind, entstehe eine Art Opferpyramide, in der ein Wettbewerb herrsche, wer denn nun am meisten zu leiden habe. „Aus der angenommenen Unterdrückung dieser Gruppen sollen Konsequenzen folgen, die von Rücksichtnahme bis zur Unterwerfung unter das Empfinden der Marginalisierten reichen“, analysiert Bockwyt. Da die woke Welt keine objektive Realität kenne, bestimme jede Gruppe selbst, was ihre Wirklichkeit sei. „Wobei das Empfinden anderer Menschen, die nicht zur entsprechenden Minderheit gehören, als irrelevant gesehen wird.“

Die Reaktionen darauf ähneln denen der Menschen, die sich eigentlich überhaupt nicht für den Fußballverein Werder Bremen interessieren, dessen Wechsel zum Gendersternchen aber als Angriff empfinden. „Reaktanz“ nennt Bockwyt das aus der Psychologie bekannte Phänomen eines Abwehrreflexes, sobald sich Menschen von einer Entwicklung überrollt fühlen.

Der laut geäußerte Widerspruch der einen ist ein Echo der Ordnungsrufe von der anderen Seite. Beide zusammen erzeugen eine sich aufschaukelnde Dynamik immer extremerer Äußerungen, die eine Verständigung immer schwerer machen − mit Sternchen oder ohne.

Esther Bockwyt, Woke – Psychologie eines Kulturkampfs, Westend-Verlag, 221 Seiten, 18 Euro