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Thüringen Chaos in Erfurt: Konstituierende Landtagssitzung vertagt

„Machtergreifung“ mit Pingpong: Vier Wochen nach der Wahl scheitert der thüringische Landtag daran, sich zu konstituieren. Im Zentrum steht ein Parlamentsneuling, der gleichzeitig ältester Abgeordneter ist.

Von Alexander Schierholz 26.09.2024, 18:39
Plötzlich im Rampenlicht: AfD-Mann Jürgen Treutler (vorn) ist neu im Erfurter Landtag – und spielte am Donnerstag direkt eine zentrale Rolle.
Plötzlich im Rampenlicht: AfD-Mann Jürgen Treutler (vorn) ist neu im Erfurter Landtag – und spielte am Donnerstag direkt eine zentrale Rolle. (Foto: Martin Schutt/dpa)

Erfurt/MZ - Es ist 14.21 Uhr, als Andreas Bühl nicht länger an sich halten kann: „Was Sie betreiben, ist Machtergreifung!“, schleudert der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU-Fraktion dem Alterspräsidenten entgegen. Jürgen Treutler (73), Mitglied der AfD-Fraktion, hatte dem Christdemokraten gerade zwei Ordnungsrufe erteilt. Gejohle bei der AfD, Buhrufe bei den übrigen Parteien. Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) beantragt eine Unterbrechung der Sitzung, die vierte. Am Ende werden es sechs sein.

Erfurt, Plenarsaal des Landtagsgebäudes, Donnerstagnachmittag. Knapp vier Wochen nach seiner Wahl tritt der neue Thüringer Landtag zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. Und die gerät von Anfang an zu einem Kräftemessen zwischen der vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuften AfD und den vier anderen Fraktionen von CDU, BSW, Linke und SPD. Bei der Wahl in Thüringen ist die AfD erstmals in einem Landesparlament stärkste Kraft geworden. Die Partei hält 32 der 88 Mandate – und ihr Landes- und Fraktionschef Björn Höcke hatte bereits vor dem Wahltag am 1. September den Anspruch angemeldet, Ministerpräsident werden zu wollen.

Landtag in Erfurt: Bei der Wahl des Präsidenten droht eine Blockade

Am Donnerstag aber versuchen die Rechtsextremisten erst einmal, einen anderen Anspruch durchzusetzen: Sie wollen die Landtagspräsidentin stellen und haben dafür ihre Abgeordnete Wiebke Muhsal nominiert. Als stärkster Fraktion steht es der AfD laut Geschäftsordnung des Landtages zu, jemanden vorzuschlagen. Allerdings sind die anderen Fraktionen nicht zur Zustimmung verpflichtet, die Wahl ist laut Geschäftsordnung auch geheim. Und: Alle anderen Fraktionen haben erklärt, eine AfD-Präsidentin nicht mitzutragen – es droht eine Blockade.

Die CDU und das BSW wollen daher die Geschäftsordnung so ändern, dass von vornherein auch andere Fraktionen Kandidaten für die Präsidentenwahl vorschlagen können. Ein entsprechender gemeinsamer Antrag steht am Donnerstag auf der Tagesordnung der konstituierenden Sitzung. Die SPD und die Linken haben sich bereiterklärt ihn mitzutragen. Damit könnte der CDU-Abgeordnete Thadäus König ins Rennen gehen – und gegen die Stimmen der AfD Landtagspräsident werden.

Das ist der Plan. Doch soweit wird der Landtag an diesem Donnerstag nicht kommen.

Was Sie betreiben, ist Machtergreifung!

Andreas Bühl, Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU-Fraktion, über den Alterspräsidenten Jürgen Treutler (AfD)

Was sich stattdessen über Stunden im Plenarsaal abspielt, ist ein erbittertes Ringen um die Geschäftsordnung, geprägt von Zwischenrufen von allen Seiten, Unmut, lautem Applaus und Klopferei auf die Tische. Mehrfach droht AfD-Mann Treutler, der als ältester Abgeordneter die Sitzung bis zur Wahl eines Präsidenten zu leiten hat, mit Ordnungsrufen, weiteren Unterbrechungen der Sitzung – und dem Abstellen der Mikrofone der Abgeordneten. Immer wieder eilt Landtagsdirektor Jörg Hopfe von seinem Platz hinter ihm zum Alterspräsidenten, offenbar um ihn über seine Rechte und Grenzen aufzuklären. Mehrfach debattieren während Sitzungsunterbrechungen Treutler und die Parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktionen. Für den AfD-Mann ist das Neuland – bisher sitzt er im südthüringischen Sonneberg im Kreistag und im Stadtrat. In den Landtag ist er erstmals gewählt worden.

Im Kern dreht sich die turbulente erste Sitzung um die Frage: Ist es zulässig, die Geschäftsordnung wie von CDU und BSW beantragt zu ändern, noch bevor ein Landtagspräsident gewählt ist? Nein, sagt die AfD – wohl wissend, dass ihre Kandidatin Muhsal keine Chance mehr hätte gegen den CDU-Kandidaten König, der sich der Mehrheit der anderen Fraktionen sicher sein kann. Mitten hinein in die Debatte verschickt die AfD-Fraktionspressestelle um 13.46 Uhr ein Rechtsgutachten, das ihre Auffassung untermauern soll.

Der Gang zum Landesverfassungsgericht als "letztes Mittel": Andreas Bühl, Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU
Der Gang zum Landesverfassungsgericht als "letztes Mittel": Andreas Bühl, Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU
(Foto: Bodo Schackow/dpa)

Um den gemeinsamen Antrag mit dem BSW überhaupt abstimmen zu können, verlangt die CDU zu Beginn der Sitzung per Geschäftsordnungsantrag, Treutler möge die Beschlussfähigkeit des Landtages feststellen. Erst dann kann das Parlament überhaupt abstimmen. Doch über Stunden beharrt Treutler darauf, erst seine Eröffnungsrede zu Ende zu bringen. Darin beklagt er eine „Verachtung des Volkes“ durch eine „politisch-mediale Elite“ und betont wortreich, der stärksten Fraktion stehe das Amt des Landtagspräsidenten zu, das sei eine nie in Frage gestellte Gepflogenheit, ein „verfassungsmäßiges Gewohnheitsrecht“. Den Namen seiner Partei muss Treutler dabei nie nennen – jeder weiß, wen er meint.

Immer wieder unterbricht Andreas Bühl, der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU, den Redefluss von Treutler und verlangt, die Beschlussfähigkeit feststellen zu lassen. Mehrfach entgegnet Treutler, mit seiner Rede fortfahren zu wollen. Dabei müssen Geschäftsordnungsanträge nach den geltenden Regeln sofort abgestimmt werden.

Seit 32 Jahren ist die Saaldienerin im Haus. Aber so eine turbulente Landtagssitzung hat sie noch nicht erlebt.

Es ist dieses Pingpong, das Bühl schließlich so in Rage bringt, dass der Ruf von der „Machtergreifung“ fällt. Zuvor hat er dem Alterspräsidenten von der AfD bereits vorgeworfen, der Demokratie zu schaden und die Rechte der Mehrheit der Abgeordneten zu verletzen. Auch andere Parlamentarier sind erzürnt. „Hier wird die Mehrheit des Hauses verächtlich gemacht!“, ruft der amtierende Ministerpräsident Bodo Ramelow von der Linken in den Saal. Nach einem weiteren Zwischenruf adressiert Treutler den geschäftsführenden Regierungschef direkt: „Herr Ramelow, mäßigen Sie sich!“

Auf der Besuchertribüne: Kopfschütteln. „Ich bin 32 Jahre im Haus. So etwas habe ich noch nicht erlebt“, sagt eine Saaldienerin. Da kann sie noch nicht ahnen, dass CDU-Mann Andreas Bühl wenig später zum, wie er sagt, „letzten Mittel“ greifen wird. Nachdem alle Fraktionen bis auf die AfD noch einmal beteuert haben, sich in ihren parlamentarischen Rechten verletzt zu sehen, tritt der Christdemokrat ans Rednerpult. „Hier besteht heute ein großer Dissens“, sagt Bühl. Und der, so sieht er es, kann im Plenum nicht mehr aufgelöst werden. Daher werde seine Fraktion nun das Landesverfassungsgericht anrufen, um die unterschiedlichen Rechtsauffassungen klären zu lassen.

Die Sitzung des Thüringer Landtags ist unterbrochen. Nun muss das Landesverfassungsgericht entscheiden, wie es weitergeht

Formal soll Thüringens höchstes Gericht die Tagesordnung vom Donnerstag bestätigen. Damit wäre der Weg frei für den gemeinsamen Antrag von CDU und BSW, wonach alle Fraktionen Kandidaten für das Amt des Landtagspräsidenten vorschlagen dürfen. Doch dürfte es wohl auch um die Frage gehen, ob und wie weit Alterspräsident Treutler von der AfD seine Rechte überschritten hat.

Das Gericht hatte bereits vor Tagen signalisiert, rasch zu entscheiden. Fortsetzung im Landtag in Erfurt: Samstag, 9.30 Uhr.