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Abzug der GUS-Streitkräfte Abzug der GUS-Streitkräfte: Ein Abschied mit Würde

Von Constanze Matthes 19.07.2017, 06:39
So berichtete die Mitteldeutsche Zeitung am 20. Juli 1992.
So berichtete die Mitteldeutsche Zeitung am 20. Juli 1992. Repro

Naumburg - Eine Audiokassette mit einer besonderen Aufnahme hält sie noch immer in Ehren. 25 Jahre sind vergangen, seitdem das Band bespielt wurde. Heute gibt es Handys, um eine Rede, ein Gespräch aufzunehmen, aber auch das Internet, mit dessen Hilfe Lidia Firsanowa ihre Erinnerungen an den 19. Juli 1992 via E-Mail auf die Reise schickt. Es war ein Sonntag. Ein Tag des Abschieds. Im Naumburger Dom fand der letzte deutsch-russische Gottesdienst statt.

Gotteshaus voll besetzt

Propst Waldemar Schewe hielt die Predigt. Die 37-jährige Lidia Firsanowa war dabei - als Fremdsprachen-Lehrerin und Zivilangestellte bei den GUS-Truppen. Naumburg und die Kirchengemeinde verabschiedeten die in der Domstadt stationierten Soldaten.

Das Gotteshaus war voll besetzt. Mehr als 6.000 Soldaten plus ihre Familienangehörigen waren es damals, die bis September 1992 die Stadt verlassen haben, zuletzt Generalmajor und Garnisonschef Anatoli Trotz. „Ich glaube, sehr viele von ihnen, die heute hinter verschiedenen Grenzen leben, erinnern sich an den Sommer 1992. Wir waren damals alle zusammen - Deutsche wie Sowjets, die alle Russen genannt wurden. Heute sind wir alle getrennt - Russen, Ukrainer, Georgier und Armenier“, schreibt Lidia Firsanowa, die heute in Moskau lebt und noch immer als Übersetzerin innerhalb internationaler Projekte tätig ist.

Theologe als Dolmetscher

Während sie sich unter anderem noch immer lebhaft an die Feier im Kreuzgang nach dem Gottesdienst erinnert, blickt Günther Schulz auf das Wirken Schewes zurück. Der Professor für Theologie an der Universität Münster mit Schwerpunkt Kirchengeschichte Ost- und Ostmitteleuropas wirkte damals als Simultandolmetscher. „Schewe hat sich damals viele Gedanken gemacht. Ihm war es zu verdanken, dass alle Soldaten deutsche Familien besuchen dürfen. Das war zur damaligen Zeit noch immer gefährlich und ein Wagnis“, erzählt Schulz, der Slawistik, später an der Kirchlichen Hochschule in Naumburg Theologie studierte und dort in Folgejahren auch unterrichtete. In einem Abschiedsgespräch in der Domklausur habe Major Wladimir Fjodorow Schewe gedankt. Seit der Wende zählten die deutsch-russischen Gottesdienste anlässlich christlicher sowie orthodoxer Feiertage zu einer Tradition in Naumburg. Den Abschiedsgottesdienst am 19. Juli 1992 mit Predigt, Lesungen sowie Liedern in Deutsch und Russisch übertrug der Radiosender Deutsche Welle. „Schewe hat sein Wirken im Dienst des Friedens und der Versöhnung gesehen“, so Schulz.

Zu den Naumburgern, die nach einem Aufruf der Kirchengemeinde russische Soldaten als Gäste empfingen, zählten Familie Meinhold und Familie Gaßmann. Erinnerungen und Dokumente haben ein Vierteljahrhundert überdauert. So haben die Gaßmanns die damalige Gottesdienst-Ordnung sowie Zeitungsartikel aufbewahrt. Drei Soldaten, darunter ein Offizier, begrüßten sie einst. Die besondere Begegnung sei indes schwierig gewesen, vor allem wegen sprachlicher Hürden und der Schüchternheit der teils noch sehr jungen Militärs. „Mit unserem Schul-Russisch konnte wir sie kaum verstehen“, erzählt Bärbel Gaßmann. „Aber das Eis brach, als ich eine Mappe mit russischen Ikonen-Bildern zeigte.“ Zu Essen habe es Rouladen und Rotkraut gegeben, erinnert sich die Naumburgerin, als ob es erst gestern gewesen wäre. Ihren Rückblick auf die Zeit der Besatzung und den Abzug der Truppen begleiten sowohl positive als auch negative Erinnerungen. „Es gab schöne Begegnungen, aber auch Leid“, so Bärbel Gaßmann.

Dankeschön in einem Brief

Auch die Meinholds hießen drei Soldaten willkommen - zum Nachmittag nach dem Gottesdienst. „Sie waren 18, 19 Jahre alt, schüchtern und anständig“, berichtet Dorothea Meinhold. „Einer der Soldaten, ein Mann aus Litauen, hat sich ein Jahr später in einem Brief bei uns bedankt.“ Die Domstädterin erinnert sich vor allem auch an besondere Worte, die Schewe während des Gottesdienstes zu den Soldaten und deren Angehörigen gesprochen hatte: Wir freuen uns, dass ihr geht, aber wir freuen uns auch, wenn ihr uns als Freunde wieder besucht. „Es ist auch sein Verdienst, dass der Abschied und Abzug mit Würde geschah“, würdigt Dorothea Meinhold das Wirken des Propstes, der im Februar 2016 verstarb. In all den 25 Jahren hat Lidia Firsanowa Kontakt zu Schewes und anderen Naumburgern gehalten. Zuletzt besuchte sie den Propst und dessen Frau Rosemarie vor drei Jahren: „Ich bin meinem Schicksal so sehr dankbar für das Treffen und die Freundschaft.“

Lidia Firsanowa
Lidia Firsanowa
Privat
Ostern 1992: Propst Waldemar Schewe übergibt russischen Kindern Geschenke, die zuvor gespendet wurden.
Ostern 1992: Propst Waldemar Schewe übergibt russischen Kindern Geschenke, die zuvor gespendet wurden.
Repro