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MZ-Serie „Lebenswege“ Warum Wolfgang Tischer 1965 als Wessi in die DDR übersiedelte

Er hatte eine Karriere in den Fordwerken vor sich, doch er wollte auf die andere Seite der Mauer. Es war eine Entscheidung des Herzens - Politik spielte dabei keine Rolle.

Von Dirk Skrzypczak 15.10.2022, 10:54
Wolfgang Tischer steht am Schlagbaum im Genscher-Haus in Reideburg. 1965 war er in die DDR übergesiedelt.
Wolfgang Tischer steht am Schlagbaum im Genscher-Haus in Reideburg. 1965 war er in die DDR übergesiedelt. (Foto: Steffen Schellhorn)

Halle (Saale)/MZ - Zu seinem 60. Geburtstag 2005 versuchte sich Wolfgang Tischer als Poet. Sein Leben verpackte er in Reimen. Ziemlich in der Mitte des Gedichts findet sich die entscheidende Passage, jener Augenblick, der eine Biografie umkrempelte. Es geht um eine kranke Tante und eine Cousine, die sich um sie kümmerte.

Und diese Cousine „schleppte ihre Freundin mit, na das war erst ein besonderer Hit“, heißt es. Der Liebe wegen pfiff Tischer, heute 77, Mitte der 60er Jahre auf das Leben im freien Westen und siedelte in den diktatorischen Osten über. „Die Politik war damals für mich weit weg. Ich habe auf mein Herz gehört“, erzählt er.

Die DDR - das „Reich des Bösen“?

Das passt zu einem Mann, der geradlinig durchs Leben geht, seine Prinzipien nie verraten hat und sich im Arbeiter- und Bauernstaat dennoch nie als Besser-Wessi sah. Dabei stammt der zweifache Familienvater ganz aus der Nähe. Als Kriegskind lebt er mit der Mutter bei den Großeltern väterlicherseits in Meuschau. Doch seinen Vater lernt er nie kennen. Er fällt an der Front in Polen. Als seine Oma im westfälischen Wulfen Hilfe braucht, zieht der zweijährige Junge mit der Mutter 1947 in die andere Heimat. In einer katholischen Schule bekommt er die Westpropaganda eingeimpft. „Hinter der Grenze ist der Russe.

Das sind Untiere, hatte man uns gesagt“, erzählt er. In die DDR, das Reich des Bösen, will er nicht. Doch als die Großeltern in Meuschau darum bitten, setzt er sich als Zehnjähriger in den Zug. Und erlebt eine Überraschung. „Meine Verwandten haben sich für mich zerrissen. Und die Kinder in der DDR hatten Freizeitmöglichkeiten, auf die ich neidisch war. Bei uns gab es nur die Kirche und den Fußballverein.“

Die Frau seines Lebens, die selbst politische Grenzen pulverisierte: 1966 hatte Wolfgang Tischer seine Petra in Halle geheiratet.
Die Frau seines Lebens, die selbst politische Grenzen pulverisierte: 1966 hatte Wolfgang Tischer seine Petra in Halle geheiratet.
Steffen Schellhorn

Der junge Wolfgang wird in Meuschau zum Dauergast. Und als er Petra trifft, die Traumfrau seines Leben, schmiedet er Umzugspläne. „Schließlich durfte Petra ja nicht in den Westen.“ Beruflich steht er da längst auf eigenen Beinen. Nach der Lehre als Elektriker in der Zeche wechselt er zu den Ford-Werken nach Köln, arbeitet dort in der Datenverarbeitung. Doch Tischer zieht es wie einen Magneten auf die andere Seite der Mauer.

1964 wird er als 19-Jähriger mit seinem Onkel bei der Abteilung Inneres in Merseburg vorstellig. „Als ich denen sagte, dass ich in der DDR leben möchte, haben die mich angestarrt, als ob ich von einem anderen Stern komme.“ Tischer stellt nur zwei Bedingungen. Er will heiraten und studieren – Letzteres hatte sein Stiefvater im Westen verhindert. Die Genossen nicken. Tischer kündigt in Köln und setzt sich am 15. Dezember 1965 in den Zug. In Helmstedt zeigt er den Grenzern seinen Koffer. Er bleibe jetzt hier, habe er gesagt.

Alleine in die DDR? Von wegen!

Doch verblüfft sind nicht die Soldaten, sondern der junge Mann. „Es wollten weit mehr Menschen in die DDR, als bekannt ist. Die meisten von ihnen waren aber verkrachte Existenzen“, sagt er. Tischer kommt ins Aufnahmelager nach Barby – wie 800 andere „Flüchtlinge“ auch. Der Staatsapparat checkt ihn durch. Hat er Schulden? War er kriminell? Doch Tischers Weste ist sauber. Nach einer Woche darf er das Lager verlassen und sein neues Leben beginnen.

Die Tischers schaffen sich fortan ihr eigenes Reich, die Familie wird zur unüberwindbaren Burg, in die auch die Politik nicht hereingelassen wird. „Ich hatte mich entschieden und die Lebensverhältnisse akzeptiert.“ Nach dem Ingenieurstudium geht er zur Bürotechnik nach Halle – später Robotron. Als Gruppenleiter im Staatsbetrieb verschlägt es ihn beruflich nach Bulgarien, Rumänien und Polen. In den Westen darf er erst kurz vor den Mauerfall. Die Grenze ist auch für ihn unüberwindbar geworden.

„Mich hat das nicht gestört. Ich hatte alles, was ich wollte.“ Aufbegehren, dem Regime die Zähne zeigen, das war nicht sein Ding. Ein Kommunist wurde er dennoch nie, wie sein Kadereintrag bei Robotron zeigt. Ideologisch bedürfe er einer ständigen Anleitung und Führung, notierte sein Chef im Betrieb.

Liberale Partei als Ventil

„Natürlich haben wir nicht die Augen vor den Problemen in der DDR verschlossen.“ Zum Ventil für die Tischers wird die liberale LDPD, in die sie 1980 eintreten. Bei den Treffen geht es um kaputte Häuser und alle Themen, die den Menschen unter den Nägeln brennen. Der damals Mittvierziger hofft und glaubt an sanfte Veränderungen, an eine bessere DDR, die möglich sei. „Das Land war für mich groß genug. Und dass die Mauer 1989 fällt, hätte ich wie Genscher so nicht für möglich gehalten“, sagt er. Bis 2005 wohnt die Familie Halle, baut sich später ein Haus in Dieskau.

Im geeinten Deutschland packt Tischer gesellschaftlich an. Irgendwann schafft er beruflich den Sprung zum Datenverarbeiter Gisa. Für die FDP sitzt er eine Wahlperiode in der Stadtverordnetenversammlung Halle, wird 1994 Präsidiumsmitglied im Stadtsportbund. Zudem führt er Besucher durch das Genscher-Haus in Reideburg, hat den ehemaligen Außenminister zu dessen Lebzeiten selbst getroffen.

Das Ehrenamt im Sport will er jetzt an den Nagel hängen. „Es ist Zeit, Platz zu machen.“ Angesprochen auf sein Leben und vor allem die Transformation vom Wessi zum Ossi, sagt Tischer: „Ich würde alles wieder so machen.“