Prozess gegen Adrian Ursache Prozess gegen Adrian Ursache: Verdacht gegen SEK: Decken sich Polizisten gegenseitig?
Halle (Saale) - Es versprach eigentlich, ein kurzer Prozess zu werden. Ein Mann, der die Behörden der Bundesrepublik nicht anerkennt, hatte bei einem Polizeieinsatz auf seinem Grundstück auf Beamte eines Sondereinsatzkommandos geschossen. Ein Polizist wird bei der Schießerei verletzt. Dessen Kollegen wehren sich und schießen den Täter nieder. Klarer Fall.
„Dem im November 1974 geborenen Angeklagten werden versuchter Mord, gefährliche Körperverletzung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte zur Last gelegt“, heißt es in der Anklageschrift, die 14 Monate nach den Ereignissen verlesen wird.
Ereignisse, die das kleine Örtchen Reuden in der Elsteraue schwer erschüttert haben. Adrian Ursache, früher einmal ein Mister Germany, heute aber ein im Ort bekannter Familienvater, Musiker und Fußballtorwart, entpuppt sich plötzlich als „Reichsbürger“, der sich gewaltsam gegen staatliche Maßnahmen zur Wehr setzt.
Prozess um Adrian Ursache: Der Angeklagte bedient ein Klischee
Als der Angeklagte erstmals den Gerichtssaal betrat, erfüllt er alle Erwartungen. Die Füße gefesselt, flankiert von vermummten Justizwachleuten mit Maschinenpistolen, inszeniert sich Adrian Ursache als Justizopfer. Er winkt mit dem Grundgesetz und betont, dass er das Gericht ablehne. Wochenlang blockiert der 43-Jährige die Beweiserhebung durch bizarre Anträge und Vorlesungen über Völkerrecht. Worum es geht, kommt gar nicht zur Sprache. Es ist der Teil des Verfahrens, in dem die Ermittlungsbehörden einen guten Eindruck machen.
Doch irgendwann gibt Adrian Ursache seine Strategie der Fundamentalopposition auf. Seitdem taucht sein Wahlverteidiger Martin Kohlmann, dem eine Nähe zu rechten Bewegungen nachgesagt wird, kaum noch auf. Und Ursaches Pflichtverteidiger Manuel Lüdtke, Hartwig Meyer und Dirk Magerl gelingt es, dem Verfahren eine neue Richtung zu geben: Allmählich wird klar, dass das, was an jenem Augusttag 2016 in Reuden wirklich geschehen ist, komplizierter ist als gedacht.
Zu verdanken ist das aber nicht etwa der Ermittlungsarbeit. Die entpuppte sich in den bisherigen 16 Prozesstagen als eine Mischung aus Dienst nach Vorschrift und oberflächlicher Überprüfung feststehender Annahmen. Gutachter arbeiteten stets nur Fragelisten des Ermittlungsführers ab, die kein Licht ins Tatgeschehen brachten. Der Schuss-Experte fand zwar den „Rest eines Geschosses“ im Halstuch des getroffenen Polizisten. Wieviel vom Ganzen dieser Rest ist, kann er aber nicht sagen. „Das Geschoss habe ich nicht gewogen, weil es nicht meine Aufgabe war.“
„Herr Ursache war eine permanente Bedrohung“
Ähnlich fallen die Auftritte der meisten Polizeibeamten aus. Nichts gesehen, wenig gehört, aber viel vergessen. „Negativ, ich kann mich nicht erinnern“, heißt es immer wieder. Es dauert zwei Monate, bis klar ist, was Prozessbesucher bereits am dritten Tag nach der Vorführung eines Einsatzvideos ahnen: Nicht der Revolver Ursaches, sondern die Glock-Pistolen der SEK-Männer feuerten zuerst. Ausgerechnet der Schütze, der vier von fünf Polizeikugeln abgefeuert hatte, bestätigt das am 15. Verhandlungstag.
„Herr Ursache war eine permanente Bedrohung“, schildert der Beamte mit dem Kürzel ST 321, „ich musste mit meinem Schuss nicht warten, bis er mich penetriert.“
Durfte ST 321 schießen, obwohl Ursache da schon vier lange Minuten nicht geschossen hatte? Die Wahrheit hat in diesem Verfahren Schalen wie eine Zwiebel. Unter jeder sicheren Erkenntnis wartet eine weitere Schicht an Fragen. So hatte der Ermittlungsführer M. zu Beginn noch zugegeben, dass seine Aufklärungsbemühungen unter dem Druck standen, alles besonders korrekt abzuwickeln, „weil es hier auch die politische Schiene gab“.
Doch statt penibler Aufklärung des Geschehens, bei dem immerhin zwei Menschen verletzt worden waren, ergibt sich ein Bild erstaunlicher Beliebigkeit: Tatbeteiligte Beamte wurden nicht vernommen, sie mussten nur eine schriftliche Erklärung abgeben. Bei anderen gab es eine Vernehmung, bei der ein Vorgesetzter zugegen war. Mit welcher Berechtigung und aus welchem Grund? „Negativ, das kann ich Ihnen nicht sagen“, sagt ST 321, ehe er sich entschließt, nun auch zu schweigen.
Ein Festival des Versagens im Prozess gegen Adrian Ursache
Ein Festival des Versagens. Der medizinische Gutachter hat die Verbände des schwerverletzten Ursache nur von außen betrachtet. Der Ballistiker kann nicht sagen, aus welcher Richtung eine Kugel einen Arm durchschlagen hat, weil eine „Geschehensrekonstruktion nicht meine Aufgabe war“. Testschüsse gab es nicht, weil sie nicht angefordert wurden. Und der Schmauchspurenspezialist fand dort, wo nach der Anklageschrift eine Kugel am Helm eines Beamten abgeprallt sein soll, weder Schmauch- noch Bleireste.
Nicht während der Ermittlungen, die zur Anklage führten. Sondern in der mündlichen Verhandlung. In der holen der Vorsitzende Richter Jan Stengel und die Verteidiger das nach, was vorher versäumt wurde. Sie veranlassen neue Gutachten und nehmen Beamte von SEK und Bereitschaftspolizei so ins Gebet, dass deren Taktik, immer gerade woanders hingeschaut zu haben, beißend nach Korpsgeist zu riechen beginnt.
Verteidiger Dirk Magerl entdeckt auf einem SEK-Video als Spiegelbild im Pool einen Augenzeugen der Schießerei, der bis dahin gar nicht vernommen worden war. Der Mann hatte zwar eine Zeugenladung bekommen, die aber informierte ihn darüber, dass er wegen eines Totschlages im Jahr 1926 angehört werden solle. Also, sagt der Mann, habe er sich „natürlich nicht angesprochen“ gefühlt.
Pannen bei der Zwangsräumung in Reuden
Was im Oktober ein einfaches Verfahren zu werden schien, an dessen Ende lebenslange Haft hätte stehen können, weil „das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe als erfüllt anzusehen ist“, wie es in der Anklage heißt, entpuppt sich zusehends als Prozess, in dem nicht nur der Angeklagte auf der Anklagebank sitzt. Ein Schuss ins Knie des Rechtsstaates, der einem erklärten Gegner wie Adrian Ursache Recht zu geben scheint: Wo das Etikett „Reichsbürger“ klebt, ist Wahrheitsfindung weniger wichtig als eine demonstrative Reaktion der Staatsmacht.
Denn nicht nur bei der Aufklärung der Geschehnisse in Reuden wurde augenscheinlich nicht mit letzter Energie auch nach Tatsachen gesucht, die den Angeklagten entlasten könnten, wie es das Gesetz vorschreibt. Nein, schon im Vorfeld des Einsatzes, bei dem 200 Beamte mit gezogenen Waffen die Zwangsräumung des Grundstückes der Familie Ursache absichern sollten, gab es so viele Pannen, seltsame Entscheidungen und fragwürdige Abläufe, dass Verteidiger Manuel Lüdtke inzwischen von einem „vermutlich rechtswidrigen“ Einsatz spricht.
So hatte keiner der Beamten, die ohne Ankündigung das Grundstück stürmten, einen Haftbefehl oder sonst irgendein Papier dabei, das ihr Vordringen legitimierte. Sie hätten „Polizei, Polizei“ gerufen, versicherten mehrere SEK-Männer. Auf einem öffentlich gewordenen Video ist davon nichts zu hören. Zudem wusste kaum ein Polizist, dass es sich bei der „schlagartig zu sichernden Fläche“, wie sie ein Beamter nannte, um drei Grundstücke handelt, von denen zwei durch die Beamten gar nicht hätten betreten werden dürfen.
Beamter ST 326: „Wir sollten nur für Sicherheit sorgen“
Durchsucht wurden sie dennoch. Personen, die sich in den Gebäuden aufhielten, wurden zu Boden gezwungen und mit Kabelbindern gefesselt, wobei sich kein erinnern konnte, dass er oder seine Einheit Kabelbinder verwendete. Handys wurden mitgenommen, ohne Durchsuchungsbeschluss und Protokoll, Menschen stundenlang eingesperrt, ohne den Grund dafür zu erfahren. Als Verteidiger Hartwig Meyer nachfragt, welche Kenntnisse über den Einsatz die Beamten hatten, gähnt ihn ein Loch aus Unwissen an.
Irgendwelche Schulden. Irgendwo war auch ein Gerichtsvollzieher. Nein, gesehen hat ihn keiner. „Wir sollten nur für Sicherheit sorgen“, sagt der Beamte Nummer ST 326. Ihnen sei mitgeteilt worden, dass es am Vortag „aggressiven Widerstand“ gegen die Polizei gegeben habe. Das stimmt nicht, stärkte aber Kampfgeist und Einsatzwillen.
Schon als Ursache und seine Frau am Morgen des Tattages mit dem Auto von der Schule zurückkehren, wo sie ihre beiden Söhne abgeliefert haben, werden beide auf Schritt und Tritt beobachtet. Man hätte das Ehepaar einfach festnehmen können. Halt, Stopp, Polizei, steigen Sie bitte aus, wir haben hier einen Haftbefehl.
Ein Routineeinsatz, den drei, vier Beamte abwickeln. Stattdessen lässt die Einsatzleitung die „Hauptzielperson“ zurück dorthin fahren, wo eine der Polizei zu diesem Zeitpunkt unbekannt hohe Zahl an Unterstützern gerade den Frühstückstisch deckt. Dann kommt der Einsatzbefehl und die SEK-Männer stürmen mit gezogenen Waffen los. Vier Minuten später fällt der erste Schuss.
Der Prozess am Landgericht Halle wird am 3. Januar fortgesetzt.
Mister Reichsgründer Adrian Ursache
Adrian Ursache wurde in Rumänien geboren und kam später mit seiner Familie nach Deutschland. Er wuchs am Bodensee auf, lernte Kfz-Mechaniker und arbeitete nebenbei als Model. 1998 wurde er zum „Mister Germany“ gewählt, später lernte er die vier Jahre jüngere Sandra Hoffmann kennen, die im Jahr 2000 Miss Germany geworden war.
Das Paar heiratet 2003, anfangs pendelt Adrian Ursache noch zwischen dem Haus der Familie seiner Frau in Reuden und seiner Arbeitsstelle in Süddeutschland, später aber bezieht die Familie ein Nachbarhaus neben dem Grundstück der Schwiegereltern. Zwei Söhne werden geboren, Ursache aber verliert seine Arbeitsstelle. Er startet ein Solarunternehmen, das er von zu Haus aus betreibt.
Ab 2015 gerät die Familie in Zahlungsschwierigkeiten, Ursache wehrt Zahlungsaufforderungen mit im Internet angelesenen Parolen über Formfehler und fehlende Unterschriften ab. Anfang 2016 gründet er mit dem „Reich Ur“ einen eigenen „Staat“, den er mit „Eisen und Blut“ verteidigen werde, wie er im Internet ankündigt. (mz)