MZ-SERIE „LEBENSWEGE“ Wie ein Fahrradhändler aus Halle nach der Wende zum Öko-Vorreiter wurde
Schon zu DDR-Zeiten war für den heutigen „Fahrradies“-Inhaber Thomas Barth das Fahrrad das Fortbewegungsmittel Nummer eins. Als Institution für individuelle Mobilität steht er für eine saubere und lebenswerte Stadt. Nach der Wende eröffneten sich für ihn vorher nicht gekannte Möglichkeiten.
Halle (Saale)/MZ - In Halle ist Thomas Barth für viele Zweiradbegeisterte nicht nur der „Fahrradhändler des Vertrauens“, sondern regelrecht eine Institution in Sachen Fahrrad und individueller Mobilität. Das liegt zum einen in der Kompetenz begründet, mit der Barth und sein Team seit mehr als 30 Jahren das „Fahrradies“ in Halle führen. Das liegt zum anderen aber auch daran, dass Barth, seitdem er denken kann, Werte vertritt, die heute mehr denn je die Debatten um eine lebenswerte Zukunft bestimmen.
Schon in jungen Jahren hat der Hallenser, der in Kindheit und Jugend sowohl in der Saalestadt als auch auf dem großelterlichen Dorf im Saalkreis zu Hause war, gern geschraubt und gewerkelt – begünstigt durch den Umstand, dass auf dem Dachboden des Großvaters jede Menge Werkzeug lagerte. Für die Dorfjugend, die sich auf ihren Rädern Wettrennen lieferte, wurde Barth zum gefragten Monteur. Bis zum „Fahrradies“, wie es die Hallenser heute kennen, war es noch ein weiter, zugleich aber für Barth und seine Weggefährten folgerichtiger Weg, für den sie bereits vor der Wende die Weichen gestellt haben.
- Teil 1 - Das verspricht sich Halle vom neuen Zukunftszentrum
- Teil 2 - Wie ein Pfarrer aus Halle zum Top-Dissidenten in der DDR wurde
- Teil 3 - Wie ein Fahrradhändler aus Halle nach der Wende zum Öko-Vorreiter geworden ist
- Teil 4 - Warum Wolfgang Tischer 1965 als Wessi in die DDR übersiedelte
- Teil 5 - Wie eine Ärztin aus Halle mit 19 D-Mark den Neuanfang im Westen wagte
- Teil 6 - Warum ein stadtbekannter Politiker in Halle die Wende als großen Gewinn bezeichnet
- Teil 7 - Was eine Lehrerin in der DDR besser als heute fand
- Teil 8 - Wie eine Goldschmiedin aus Halle in der DDR mit nur 30 Gramm Gold pro Jahr arbeiten musste
- Teil 9 - Wie ein junger Soldat aus Halle dem Stasi-Wachregiment „Feliks Dzierzynski“ den Rücken kehrte
- Teil 10 - Wie ein Buchhändler aus Halle die Wende als Soldat in einer NVA-Kaserne erlebte
- Teil 11 - Wie ein Punk aus Halle in der DDR mit den Repressionen des Staates zu kämpfen hatte
- Teil 12 - Wie ein Denkmalschützer aus Halle mit der Abriss-Politik der DDR zu kämpfen hatte
- Teil 13 - Wie eine junge Frau in den 1980er Jahren mit der Kamera gegen Abrissbagger in Halles Altstadt antrat
Thomas Barth erinnert sich an seine Zeit als 20-Jähriger
„Die Zeit vor und um die Wende herum war für mich natürlich mit die spannendste Zeit meines Lebens“, erinnert sich Barth, der später nach seinem Studium als Elektroniker am Institut für Festkörperphysik und Elektronenmikroskopie am Weinberg-Campus eigentlich den Weg in den medizinischen Gerätebau einschlagen wollte. Es sei damals die Zeit der Jugend gewesen, in der man das Elternhaus verlassen und erste berufliche Erfahrungen gemacht habe.
Die besondere Spannung dieser Zeit resultiert für Barth aber nicht nur aus dem Umstand der Jugend, sondern aus der damaligen gesellschaftlichen Situation im Land. „Es herrschte zu dieser Zeit, so um 1988 herum, bereits eine sehr sehr knistrige Stimmung in der DDR, auch in Halle“, erinnert sich Barth an seine Zeit als 20-Jähriger. Viele Menschen hätten aufbegehrt, hätten Veränderungen im Land gewollt. „Da passierte viel, da gab es Umweltgruppen, größtenteils unter Kirchendächern organisiert, es gab sehr viele bewegte Menschen zu dieser Zeit“, so Barth.
Das Fahrrad als Fortbewegungsmittel Nummer eins
In Halle habe sein Freundeskreis die Interessengemeinschaft Verkehrsökologie gegründet. „Uns war ganz wichtig, dass wir wegkommen von diesem motorisierten Individualverkehr“, sagt Barth. „Uns hat nicht gefallen, dass die Straßen laut und unsicher waren, dass es immer mehr Autos wurden.“ Die Stadt, so hat es damals nicht nur Thomas Barth, sondern ein großer Freundeskreis des Hallensers empfunden, müsse so gestaltet sein, „dass Menschen darin miteinander leben können, dass sie sich sicher fortbewegen können“. Das Fahrrad, für Barth „schon immer“ Fortbewegungsmittel Nummer eins, habe man daher nach vorne bringen wollen.
Schon 1988 hat es eine starke Lobby für das Fahrrad gegeben, die mit dem Rat der Stadt Halle intensiv darüber gesprochen hat, Fahrradwege auszubauen, Abstellanlagen zu installieren, Straßen nicht nur für den Autoverkehr auszubauen und weniger Parkflächen für Autos, sondern mehr für Fahrräder zu schaffen, so dass „Menschen noch Menschen bleiben können in der Stadt, dass sie sich sicher bewegen können“. Das seien damals die Ziele gewesen, die man vor Augen gehabt habe.
„Dazu brauchte es aber auch aktive Räume“, so Barth. Man habe damals die Idee einer Begegnungsstätte gehabt, an der sich Leute treffen, sich informieren und austauschen können. Es habe den Gedanken einer Bibliothek und einer Werkstatt gegeben – und schnell sei dem Freundeskreis um Barth klar geworden, dass es zur Umsetzung des ideellen Gedankens auch eines wirtschaftlichen Zugpferdes bedurfte, der das Ganze finanzieren könne.
Das „Velo Lazarett“ wurde Anlaufpunkt für Radler
Mit Freunden hat Thomas Barth wenig später das unter dem Dach des Kulturbundes angesiedelte Projekt „Velo Lazarett“ ins Leben gerufen. Unter dem Slogan „Dein Fahrrad – Dein Problem – unsere Lösung“ haben dann Thomas Barth, dessen Bruder Tobias und Freunde bei einer Öko-Kirmes des Kulturbundes in der Heinrich-und-Thomas-Mann-Straße im Frühjahr 1989 den ganzen Tag kaputte Räder repariert – „und deren Besitzer glücklich gemacht“, erinnert sich Barth. „Wir blieben als Freunde zusammen, das hat uns auch über die schwere Zeit der Wende getragen“, so Barth.
Aus „Wir sind das Volk“ sei auf den Montagsdemos „Wir sind ein Volk“ geworden, und nach der Maueröffnung und den Rufen nach Deutschlands Einheit „schwante uns, dass uns eine Veränderung überrollen wird, die uns als Gesellschaft stark verändern wird“, so Barth. Dass eine Eingrenzung des öffentlichen Lebens auf den Straßen Halles in Kauf genommen werden müsse: Mehr Autoverkehr, mehr gesundheitliche Belastung für die Menschen - doch die Mehrheit habe sich dafür entschieden. Fahrräder, Rollstuhlfahrer, Familien mit Kindern seien indessen nicht mitgedacht worden. Halle, meint Barth, hat als weit über 1.000-jährige Stadt mit seinen engen, verwinkelten Straßen gar nicht die Gegebenheiten für einen starken Autoverkehr.
Für die vielen Radfahrer wollte man damals Anlaufpunkt sein. Und auch wenn Barth und seine Mitstreiter bestimmt nicht das Rad neu erfunden haben - mit dem „Fahrradies“, zunächst als Treff im Paulusviertel, inzwischen längst als regionales Unternehmen mit überregionaler Strahlkraft, setzen Thomas Barth und seine Mitarbeiter heute die Ideen von damals um.