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Wiedersehen mit der «Perle»

Von Stefanie Hommers 01.06.2005, 14:25

Wittenberg/MZ. - 45 Jahre später wird deutlich, dass die einstige Klasse 12b1 ihr Licht auch heute noch nicht unter den Scheffel stellen muss. Bewegte Biografien werden beim Wiedersehen in Wittenberg ausgetauscht: Als Ärzte, Ingenieure, Geologen oder Wirtschaftswissenschaftler haben sie gearbeitet, Firmen und Familien gegründet - und auch die Wirren der Wende beruflich gemeistert. Inzwischen sind viele von ihnen im Ruhestand.

"Ich wundere mich heute, dass ich früher jemals Zeit zum arbeiten hatte", gesteht Erika Drechsler lachend. Der Alltag der ehemaligen Ärztin ist auch nach der Pensionierung ausgefüllt: neben der Beschäftigung mit den eigenen Enkeln gehören Gartenarbeit und Vorlesen in einem Hort heute zu ihren Tätigkeiten.

Andere können sich nicht vorstellen, ohne ihren Beruf zu sein. Barbara Anders praktiziert in einer Gemeinschaftspraxis mit ihrem Sohn in Wartenburg - und möchte die Arbeit keinesfalls missen. "Zuhause würde ich verrückt", gesteht sie. Dem kann Christine Müller nur zustimmen. Nachdem die Dresdnerin ihre Praxis dem Nachfolger übergeben hatte, fiel ihr daheim die Decke auf den Kopf. Inzwischen macht sie zeitweise Praxisvertretungen in allen Regionen der Republik und genießt den Wechsel zwischen Arbeit und Freizeit.

Alle fünf Jahre kommt die alte Klasse in der Lutherstadt zusammen und bringt einander auf den neuesten Stand der Dinge - die Fotos von den Enkelkindern im Reisegepäck. Mutter der Klassentreffen ist Anneliese Urbschat. Die Wittenbergerin hütet die Adresskartei der ehemaligen Mitschüler und organisiert die Zusammenkünfte. Auch ein Schlaganfall vor zwei Jahren, der ihre Sprachfähigkeit stark eingeschränkt hat, kann sie nicht daran hindern.

Dieses Mal ist ihr ein ganz besonderer Coup gelungen. "Perle" schreibt sie der Reporterin mit großen energischen Buchstaben auf einen Zettel und deutet auf den Ehrengast am Kopf der langen Wiedersehenstafel. Margarete Elger, von ihren Schülern einst liebevoll "Perle" genannt, hat es sich nicht nehmen lassen, der Einladung zum Klassentreffen zu folgen. 94 Jahre alt, hat sie die weite Reise vom Schwarzwald in die Lutherstadt auf sich genommen, um ihre "Lieblinge" einmal wiederzusehen. "Die 12b1 war intelligent, lebhaft und manchmal frech, wenn man auf letzteres traf, dann hatte man Pech." Mit fester Stimme und lebhaftem Minenspiel trägt Margarete Elger ihr eigens für dieses Treffen gefertigte Gedicht vor.

Und erläutert auch gleich, wie sich bei einer Strafpredigt vor der versammelten Schülerschar der Begriff "Lieblinge" eingebürgert hatte: "Was haben meine Lieblinge nur wieder gemacht? Das Wort war gefallen, wir haben gelacht. So ist es geblieben und ich darf sie auch weiter lieben." Dass auch ihre ehemaligen Schüler ihr immer noch liebevoll verbunden sind, ist beim Wiedersehen deutlich zu spüren.

"Das geht einen runter wie Öl", genießt die ehemalige Sportlehrerin die Aufmerksamkeit. Nur eines ist der agilen Frau, die die 1932 und 1936 als Hürdenläuferin bei den Olympischen Spielen für Deutschland an den Start ging, nicht gelungen: die Schüler in dieser Disziplin fit zu machen. "Dazu waren wir zu blöd", gesteht Christine Müller lachend. Aber abgesehen davon, würde die Klasse - auch heute noch -fast alles für sie tun.