Revolution beim Turnen Revolution beim Turnen: Der schwierigste Reck-Sprung aller Zeiten

Nanning - Am Anfang hatten ihn selbst die Kollegen nicht ernst genommen. „Ich wurde belächelt“, erzählt Andreas Bretschneider. „Was trainiert der denn da für einen Blödsinn?“, habe man gesagt. Doch der Chemnitzer selbst hatte immer daran geglaubt, das schwer Vorstellbare zu schaffen: einen Salto über der Reckstange mit doppelter Schraube. Irgendwann, da hatte er ihn im Griff, da meisterte der 25-Jährige drei von vier Versuchen. So scheint es nun an der Zeit, das Element, das niemand vorher in einem Wettkampf gewagt hat, der Turnwelt zu präsentieren.
Heute soll es so weit sein, dann will der Chemnitzer Bretschneider im Teamfinale der Weltmeisterschaften von Nanning das Risiko eingehen. Den Segen von Cheftrainer Andreas Hirsch hat er: „Wir machen hier keine Zufälligkeiten“, erklärt der. Das spektakuläre Übungsteil habe zuletzt bestens geklappt. Die Konkurrenten in der Trainingshalle des Guangxi Sports Centers hätten beim Anblick des spektakulären Flugs „getobt“.
Coach ist stolz
Der Coach kann den Stolz darüber nicht verbergen, dass ein Athlet aus seinen Reihen die Tür zu einem neuen Leistungs-Level aufstoßen könnte. Denn sollte Bretschneider den waghalsigen Flug wirklich meistern, winkt ihm nicht nur dessen Aufnahme in die internationalen Wertungsvorschriften unter seinem Namen. Der Sportsoldat könnte auch in die Turngeschichte eingehen als der Erste, der ein sogenanntes H-Teil kreiert hat.
Zum Verständnis: Im Code de Pointage, dem Regelwerk des Kunstturnens, ist jedem Element ein bestimmter Wert zugeordnet. Das beginnt mit A-Teilen, die ein Zehntel zählen, und steigert sich alphabetisch bis zum G-Teil von 0,70 Punkten. Da Bretschneiders Erfindung eine der bisherigen Höchstschwierigkeiten um eine weitere Rotation um die Längsachse ergänzt, müsste sie als H-Teil mit einem Wert von 0,80 Punkten eingestuft werden.
Weltverband diskutiert bereits
Wolfgang Willam, der Sportdirektor des Deutschen Turner-Bundes (DTB) und Mitglied der Exekutive des Turnweltverbandes FIG, bestätigte gestern, dass eine entsprechende Diskussion innerhalb der FIG im Gange sei. Doch zuvor muss Bretschneider erst auf der Wettkampfbühne beweisen, dass er diesen gehockten Kovacs-Salto mit doppelter Schraube wirklich beherrscht. „Ich will den Hype darum möglichst gering halten“, erklärt der Turner selbst. Doch geheimhalten lässt sich so ein geplanter Paukenschlag nicht. Im Internet kursieren längst Trainingsvideos, und heute werden Tausende von Blicken in der Wettkampfarena auf ihm ruhen, sobald er sich ans Reck heben lässt.
Das chinesische Publikum liebt die atemberaubenden Flüge über der 2,60 Meter hohen Metallstange, begleitet sie mit Lauten, die Anerkennung und Bewunderung gleichermaßen ausdrücken. Diese hörbare Zustimmung hatte Bretschneider sich im Finale am Königsgerät zunutze machen wollen. Schon im Vorjahr bei der WM in Antwerpen hatte er den Sprung in die Entscheidung der besten acht Athleten am Königsgerät geschafft und den sechsten Platz belegt. Doch in der Qualifikation von Nanning wurden die DTB-Turner am Reck von den Juroren hart rangenommen. „Wir wurden beschissen“, drückt Trainer Hirsch es aus. So verpasste nach einem technischen Fehler nicht nur Fabian Hambüchen den Endkampf, sondern auch Bretschneider.
Orientierung in der Luft
Im Teamfinale wollen die Deutschen nun zeigen, dass das Urteil der Kampfrichter „deplatziert“ war, sagt Hirsch. Dafür werde alles riskiert. Zwei Jahre lang hat Bretschneider auf diesen Moment hingearbeitet. 2012 hatte er nach den Olympischen Spielen angefangen, seine Idee für das neue Flugteil in die Tat umzusetzen. In den ersten eineinhalb Jahren habe er vielleicht acht von 800 Versuchen gemeistert. Doch er wusste, dass er so schnell durch die Luft wirbeln kann, dass er die Stange in ausreichender Höhe wieder in den Griff bekommt. „Anfangs habe ich blind zugegriffen“, sagt er. Mittlerweile aber besitze er genügend Übersicht und Zeit, um die Stange vorher wahrzunehmen. „Es ist schön zu fühlen, dass es funktioniert.“
Angst, dass andere ihm zuvorkommen könnten, wenn er heute patzt und die Anerkennung des Elements ihm deshalb vorerst versagt bleibt, hat Bretschneider nicht. „Ich kenne nur einen Turner, der die Voraussetzungen für das Element ebenfalls erfüllt“, sagt er, „aber ich werde den Teufel tun, ihm das zu sagen.“ (mz)