Zeitmessung Zeitmessung: Wenn die Uhr falsch tickt
Halle (Saale)/MZ. - Eigentlich müssten die Uhren in der Nacht des 30. Juni die ungewöhnliche Zeit 23 Uhr, 59 Minuten und 60 Sekunden anzeigen und nicht etwa 0 Uhr. Exakt 0 Uhr ist es erst eine ganze Sekunde später, denn in dieser Nacht wird wieder eine Schaltsekunde eingefügt. Die 25. seit Einführung der Schaltsekundenregelung 1972.
Nicht nur die heimische Wanduhr gerät dabei durcheinander, sondern auch viele wissenschaftliche Projekte, Satelliten, Navigationssysteme, Finanzmärkte, Computernetzwerke, ja eigentlich jeder, der von einem kontinuierlich fortschreitenden und exakt vorhersagbaren Zeitmaß abhängig ist. Viel zu groß seien die Nachteile dieses Einfügens einer Ausgleichsekunde, sagen Kritiker dann auch und fordern folgerichtig die Abschaffung der Schaltsekundenregelung.
Anfang 2012 trafen sich Experten in Genf, um darüber zu beraten. Als Ergebnis kam allerdings nur die Vertagung der Angelegenheit bis zu einem erneuten Treffen im Jahr 2015 heraus. Dabei steht die Schaltsekunde schon länger auf dem Prüfstand: Viele Fachleute empfehlen ihre Abschaffung, andere wollen lieber daran festhalten.
Auf den ersten Blick ist alles ganz einfach: Ein Tag hat 24 Stunden, eine Stunde 60 Minuten und eine Minute ihrerseits wieder 60 Sekunden. Das macht insgesamt 86 400 Sekunden. Genau so lange braucht die Erde für eine Umdrehung um ihre eigene Achse. Soweit die Theorie, die auch bis ins Jahr 1967 maßgeblich für die Zeiteinteilung war. In der Praxis allerdings sieht alles ganz anders aus.
Die Erdrotation verläuft keineswegs absolut gleichförmig. In den letzten Jahrzehnten hat sie sich etwas beschleunigt, insgesamt gesehen aber wird die Erde auf Dauer eher abgebremst. Gleich eine ganze Reihe von Einflussfaktoren spielen hier eine Rolle. Die Gezeitenreibung etwa bremst die Rotation ab, wohingegen andere Ereignisse zu einer Beschleunigung führen können. So hat etwa das Beben vor der japanischen Küste am 11. März 2011 dazu geführt, dass sich die Erde nun etwas schneller dreht, der Tag ist seitdem um 1,8 Mikrosekunden kürzer als zuvor. Auch saisonale Verlagerungen großer Mengen von Biomasse können Einfluss auf die Erdumdrehung ausüben, zum Beispiel das Blattwachstum der Bäume oder auch die Umlagerung größerer Wassermassen im Winter in Form von Schnee und Eis. Mit anderen Worten: Die 86 400 Sekunden für einen mittleren Sonnentag waren schon vor Jahrzehnten lediglich eine Idealvorstellung, die von den tatsächlichen Gegebenheiten abwich.
Aus diesem Grund fragte man sich damals: Warum nicht gleich eine von derartigen Schwankungen unabhängige Basis für die Zeitmessung wählen? Gesagt, getan, und so wurde 1967 die äußerst präzise Schwingung von Cäsius-Atomen als Ausgangsbasis für die Zeitbestimmung gewählt, die die alte Regelung ablöste. Seitdem definiert sich die normierte Sekunde, die sogenannte SI-Sekunde, offiziell folgendermaßen: "Eine Sekunde ist das 9 192 631 770-fache der Periodendauer der dem Übergang zwischen den beiden Hyperfeinstrukturniveaus des Grundzustandes von Atomen des Nuklids 133Cs entsprechenden Strahlung." Mit dieser wunderschönen Definition ließen sich nun zwar viele Experten zufriedenstellen, nicht aber all diejenigen, denen der tatsächliche Lauf der Erde um die Sonne von Bedeutung war. Mit anderen Worten: Es musste ein Ausgleich für die Abweichungen her, der sich an die tatsächliche Erdrotationsgeschwindigkeit individuell anpassen ließ. Und damit war die Schaltsekunde geboren.
Sie wurde von nun an immer dann eingefügt, wenn eine Abweichung von mehr als 0,9 Sekunden aufgelaufen war. Zum Zeitpunkt ihrer Einführung und auch einige Jahrzehnte darüber hinaus, hatte sie durchaus Berechtigung, mussten doch allein in den 1970er Jahren insgesamt neun Schaltsekunden über die Jahre hinweg eingefügt werden, gefolgt von sechs Schaltsekunden in den 1980er Jahren und sieben in den 1990ern, um die Abweichungen kompensieren zu können. Von da an allerdings brauchte man die Schaltsekunde immer seltener. Von 1999 bis 2011 wurden insgesamt gerade einmal zwei Schaltsekunden benötigt.
Das alte Dilemma aber ist im Grundsatz trotz Schaltsekunden geblieben: Wissenschaftler wie Physiker oder Astronomen brauchen eine exakte, gleichförmig fortschreitende und berechenbare Zeitangabe ohne irgendwelche ausgleichenden Schaltsekunden, ganz im Gegensatz zu Otto Normalverbraucher, der sich vielmehr wundern würde, wenn die Sonne plötzlich nicht mehr um 12 Uhr mittags am höchsten stände, da sich dieser Zeitpunkt ja über die Jahre hinweg immer mehr verschieben würde, legte man die Atomzeit ohne jeglichen Ausgleich zu Grunde. So ergibt sich heute die paradoxe Situation, dass sich jeder seine Zeit so macht, wie er sie am besten gebrauchen kann.
So nutzen Normalsterbliche die "Koordinierte Weltzeit", Wissenschaftler, denen das nicht genau genug ist, die reine "Atomzeit". Für Spezialanwendungen etwa in der Astronomie oder Physik gibt eine weitere Zeit, UT genannt, die sich an der tatsächlichen Erdrotation orientiert und der Greenwich Mean Time entspricht, die von 1884 bis 1928 Weltzeit war. Das allerletzte I-Tüpfelchen auf das ganze Zeitdurcheinander setzt zum Schluss noch die Sommerzeit.