Zivildienst in Nicaragua Zivildienst in Nicaragua: Als Riese unter kleinen Leuten
Halle/MZ. - "Grandulon" - der Riese - ist wieder zu Hause in Deutschland. Niemand käme hier auf den Gedanken, Martin Schierhorn einen derartigen Spitznamen anzuhängen. Weder in seiner Heimatstadt Halle noch in Ludwigshafen, wo der 25-Jährige derzeit ein Betriebspraktikum bei der BASF absolviert. Doch noch bis vor kurzem fiel der blonde Lockenkopf nicht nur seiner Körpermaße wegen aus dem Rahmen. Ein Jahr lang hat sich Schierhorn für 50 Dollar im Monat um nicaraguanische Waisenkinder gekümmert. Als Zivildienstleistender der etwas anderen Art.
"Warum Nicaragua?" Der Hallenser versteht es nicht, wenn er von Bekannten gefragt wird, wie er auf die Idee gekommen sei, seinen Wehrersatzdienst - im Amtsdeutsch "Anderer Dienst im Ausland" - ausgerechnet in dem einstigen Bürgerkriegsland zu absolvieren. Die Antwort beginnt häufig mit einer Gegenfrage: "Warum nicht?" Schierhorn, der das hallesche Sportgymnasium 1999 mit der Traumnote 1,0 beendet hatte, denkt in anderen Kategorien als viele der alten Freunde.
Nach dem ebenso erfolgreichen Chemie-Studium am amerikanischen Elite-College Penn State, das dem einstigen Klasseschwimmer ein Sportstipendium ermöglicht hatte, war Schierhorn Anfang Januar 2003 direkt von den USA nach Managua geflogen. In dem mittelamerikanischen Land, so war dem schon mehrfach von den deutschen Behörden zur Ableistung des Wehrersatzdienstes gedrängten Hallenser bei der Recherche aufgefallen, gab es genau, was er suchte: "Einen Job, bei dem ich mein Spanisch vertiefen konnte, und einen Arbeitgeber, den Deutschland als Zivi-Träger anerkennt."
Was ihn genau erwarten würde, hatte Schierhorn freilich kaum ahnen können. Das katholische Waisencamp auf der Isla de Ometepe - einer Vulkaninsel im Nicaragua-See - wartete zunächst mit größeren Herausforderungen auf als der bis dahin gewohnte Prüfungs- und Wettkampfstress. "Ein halbes Jahr lang war es von Seiten der Kinder und Jugendlichen der reine Psychoterror", erinnert sich der Hallenser. Von seinen Vorgängern seien die Acht- bis 20-Jährigen offenbar eine weichere Gangart gewöhnt gewesen. "Womöglich waren die auch nicht so stabil gebaut."
Doch auf seine Statur allein wollte sich Schierhorn beim Kampf um den Respekt der ihm anvertrauten Kinder nicht verlassen. Drehten die vielfach aus zerstörten Sandinisten- und Contra-Familien stammenden Schützlinge mal wieder zu sehr durch, versuchte es der Deutsche mit Appellen an die Ehre: "So benimmt sich kein Nicaraguaner." Anfangs hieß es dann meist: "Was weißt du schon von Nicaragua?" Irgendwann aber hörten die Fragen auf und aus dem zunächst als Schimpfwort gebrauchten "Grandulon" wurde ein Kosename.
Für Schierhorn aber war das Jahr in Nicaragua nicht nur des erzieherischen Erfolges wegen "eine letztlich rundum zufrieden stellende Erfahrung". Alle zwei Wochen nutzte das Chemie-Ass seine freien Tage, um das von der DDR einst als zweites Kuba an die Brust gedrückte Land kreuz und quer zu erkunden. Und zu erfahren, dass die meisten Menschen vom bis vor fast 15 Jahren währenden Bruderkrieg "die Schnauze gestrichen voll haben". Sandinisten und ehemalige Contras eint heute der Wunsch nach dauerhaftem Frieden.
Seit Anfang Januar ist Schierhorn wieder in Deutschland. Doch er wird nicht lange bleiben. Ab Sommer will der Hallenser an der University of California in Santa Barbara seinen Doktor machen. Neben einem Voll-Stipendium erwartet den Beststudenten eine Prämie von 7 000 Dollar vom amerikanischen College-Sportverband. Eine andere Welt - das weiß der 25-Jährige. "Dennoch", sagt er, "meine Jungs in Nicaragua werde ich deshalb nicht vergessen."