Erste Hilfe Pflicht an Schulen? Zu wenig helfen bei Notfällen: Wie Sachsen-Anhalt nun bei Kindern ansetzt
Nur zehn Prozent der Menschen überleben eine Herz-Kreislauf-Stillstand – auch, weil zu wenig Erste Hilfe geleistet wird. In Nachbarländern sind die Überlebenschancen viel höher. Sachsen-Anhalt setzt nun auf ein Modellprojekt in Schulen. Hilft das? Ein Besuch im Burgenland-Gymnasium.

Vin Luttuschka kniet auf einer Matte. Er legt die Hände übereinander und drückt dann den Brustkorb der Puppe tief nach unten. Daneben packt Wilhelm Bauer den Defibrilator-Koffer aus, klebt Elektroden auf den Torso. Eine elektronische Frauenstimme gibt Anweisungen: „Blinkende Taste drücken. Schock abgegeben. 30 Herzdruckmassagen und Beatmung“. Der 14-jährige Luttuschke hat es nicht genau gehört, drückt irgendwie weiter. „Du musst doller drücken“, sagt sein Mitschüler. „Mache ich doch!“ Rote LED-Lampen am Kopf der Puppe signalisieren schließlich: Das Blut zirkuliert. „Na, also. Lebt wieder“, sagt Luttuschka und grinst.
Projekt in Sachsen-Anhalt
Die Schüler der achten Klasse am Burgenland-Gymnasium in Laucha (Burgenlandkreis) gehen energisch zu Werke an diesem Morgen. Es werden Motorradhelme abgesetzt, Körper gewendet, die Kinder drücken kräftig auf der Puppe herum. Manchmal sind sie fast etwas ruppig, wenn sie Arme drehen und wiederbeleben. Aber das ist nicht falsch. „Für Erste Hilfe und Wiederbelebung gilt: Am schlimmsten ist es, nichts zu tun“, sagt Robert Bartsch vom Deutschen Roten Kreuz Naumburg/Nebra.
Er ist an diesem Morgen Kursleiter und will Jugendliche mit dem Thema Reanimation vertraut machen. Seit 2023 läuft dazu in Sachsen-Anhalt ein Modellprojekt an weiterführenden Schulen. Das Burgenland-Gymnasium bietet diese Kurse seit vielen Jahren an und war damit ein Vorreiter im Bundesland. Die Landesregierung hatte sich Erste-Hilfe-Kurse in den Koalitionsvertrag geschrieben. Das Modell startete das Modell zunächst nur in zwei Regionen im Norden Sachsen-Anhalts, nun wurde es auf den Burgenlandkreis und den Saalekreis erweitert.
Die Schule ist der ideale Ort, um das lebensrettende Wissen und die praktischen Fähigkeiten zur Herz-Lungen-Wiederbelebung zu vermitteln.
Eva Feußner (CDU), Bildungsministerin Sachsen-Anhalt
„Die Schule ist der ideale Ort, um das lebensrettende Wissen und die praktischen Fähigkeiten zur Herz-Lungen-Wiederbelebung zu vermitteln“, sagt Bildungsministerin Eva Feußner (CDU). „ Hier erreichen wir alle jungen Menschen in einer Phase ihres Lebens, in der sie besonders aufnahmefähig sind und Verantwortung für sich und andere übernehmen lernen.“
Denn in Deutschland reanimieren zu wenig Bürger: Die Laien-Reanimationsquote liegt bei rund 50 Prozent. Nur in jedem zweiten Fall also starten Laien einen Reanimationsversuch. In den Niederlanden liegt die Quote bei etwa 70 Prozent, in Schweden bei rund 80 Prozent. Laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung erleiden etwa 120.000 Menschen pro Jahr einen Herz-Kreislaufstillstand – nur zehn Prozent überleben. Die Behörde geht davon aus, dass in Deutschland jedes Jahr rund 10.000 Menschenleben zusätzlich gerettet werden könnten, wenn ihnen Laien mit einer Reanimation sofort helfen.
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„Aber meist wird ein solcher Kurs nur für den Führerschein absolviert. Das ist zu spät und das meiste wird schnell wieder vergessen“, sagt Bernd Böttiger, Vorsitzender des Deutschen Rates für Wiederbelebung (GRC). „Und dann haben die Menschen Angst, etwas falsch zu machen und machen oft gar nichts oder die stabile Seitenlage.“ Ohne Scheu und wissbegierig blicken dagegen Kinder auf das Thema. Studien zeigen: Schon mit vier Jahren können die wichtigsten Grundlagen der Reanimation erlernt werden.
Im Klassenzimmer in Laucha legt sich Bartsch jetzt mit dem Rücken auf den Boden. „Ihr seht mich bewusstlos im Stadtpark liegen, was macht ihr?“, fragt er. „Ansprechen und fragen, ob Sie bei Bewusstsein sind“, antwortet einer. „Puls prüfen“, sagt ein anderer. „Besser ist, den Atem zu kontrollieren“, sagt der DRK-Ausbilder. Der 14-jährige Paul Janke macht es dann vor: Er hält das Ohr über Mund und Nase der Puppe, legt die Hand auf den Brustkorb – und prüft: Kommt Luft aus Nase oder Mund, bewegt sich der Brustkorb? Atmet die Person nicht, heißt es: Notruf absetzen und Reanimation starten: Prüfen, rufen, drücken.
Reanimation zu „Atemlos“ von Helene Fischer
„Wo ist der richtige Punkt für die Herzdruckmassage?“, fragt Bartsch in die Runde. An der Puppe zieht er eine Linie zwischen den Brustwarzen, in der Mitte und zwei Finger breit darunter liegt der Druckpunkt. „Und dann 100 bis 120 Mal pro Minute drücken.“ Am besten funktioniert das im Rhythmus von Liedern wie „Stayin' Alive“ (Bee Gees) oder „Atemlos“ (Helene Fischer). Die Schüler müssen drücken, damit das Blut fließt. So wird Zeit überbrückt, bis der Rettungsdienst kommt oder die Person wieder atmet. Sonst drohen irreversible Hirnschäden.
Wenn spätestens ab der siebenten Klasse jedes Schuljahr zwei Stunden Kurs stattfinden, können Kinder das ein Leben lang.
Bernd Böttiger, Vorsitzender des Deutschen Rates für Wiederbelebung
Bartsch holt die Schüler auch in ihrer kindlich-jugendlichen Welt ab. Als er fragt, wer schonmal mit der Simson - vielleicht auf einem Privatgrundstück im abgegrenzten Bereich - gefahren und gestürzt ist, melden sich fast alle Jungs. Dann wird im Team geübt, wie bei einer bewusstlosen Person der Helm abzunehmen ist. Es geht in die stabile Seitenlage. Warum die wichtig ist? Vin Luttuschka weiß Bescheid: „Wenn die Person bricht, dass sie nicht am Erbrochenen erstickt.“
Wissen und Technik zur Reanimation müsse früh gefestigt werden, sagt Böttiger, der auch DRK-Bundesarzt ist. „Wenn spätestens ab der siebenten Klasse jedes Schuljahr zwei Stunden Kurs stattfinden, können Kinder das ein Leben lang. Das ist dann wie Schwimmen oder Fahrradfahren.“ Kinder hätte eine natürliche „Bereitschaft, helfen zu wollen“ und seien hoch motiviert für positive Dinge. „Nichts ist schöner, als Leben zu retten.“
Auch Bartsch bemerkt einen Unterschied in den Kursen für Kinder und für Erwachsene: „Erwachsene haben übertriebene Ängste. Dass sie zum Beispiel angezeigt werden könnten, wenn Knochen gebrochen werden.“ Oder wenn Personen für die Herzdruckmassage zum Beispiel im Winter entkleidet werden müssen. „Frauen haben eine geringere Chance, reanimiert zu werden, weil Männer Befürchtungen haben“, so Bartsch. „In der Medizin oder im Notfall gibt es aber keinen Platz für Hemmungen.“ Er selbst habe viermal reanimiert. „Viermal wurden Rippen gebrochen.“ Das sei in Kauf zu nehmen, wenn die andere Option der Tod sei.
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Gerade weil es um Leben oder Tod geht, versteht Böttiger vom Deutschen Rat für Wiederbelebung nicht, „dass wir in Deutschland nicht schon längst weiter sind“. Der GRC fordert seit Jahren verpflichtenden Wiederbelebungsunterricht, zwei Schulstunden jedes Jahr. Das hatte der Schulausschuss der Kultusministerkonferenz 2014 zwar empfohlen. „Die Umsetzung ist aber freiwillig“, so Böttiger. Niedersachsen hat jetzt zum Beispiel angekündigt, Wiederbelebung ab 2026 als Lehrstoff ab der fünften Klasse einzuführen. Sachsen-Anhalt prüft nun zunächst, ob es die Erste Hilfe an Schulen ausdehnt. Vor einer landesweiten Einführung „muss die Modellphase evaluiert werden“, sagt Elmar Emig, Sprecher des Bildungsministeriums.
Ersthelfer-Apps gefordert
Es brauche bundesweit gesetzliche Vorgaben, sagt Böttiger. „Wir könnten die Überlebensrate bei einem Herz-Kreislaufstillstand verdreifachen, wenn Umstehende sofort mit der Wiederbelebung beginnen.“ Er fordert auch, dass Leitstellen immer eine Reanimation per Telefon anleiten. „Nur ein Bruchteil der Betroffenen bekommt das bisher.“ Auch sollen Leitstellen flächendeckend Laienhelfer-Apps einsetzen, wie in Schweden und Holland. Dabei können registrierte Ersthelfer, die sich in der Nähe eines Notfalls befinden, direkt informiert werden. Bisher gibt es solche Systeme nur in wenigen Regionen und Städten.
Im Kurs am Burgenland-Gymnasium steht für Vin Luttuschka schon fest: „Ich traue mir erste Hilfe zu. Vieles kenne ich schon, weil ich Mitglied der Feuerwehr bin. Es geht darum, keine Angst davor zu haben – einfach machen.“ Bartsch setzt dabei auch auf einen Multiplikator-Effekt, und gibt der Klasse zum Abschluss noch einen Wunsch mit auf den Weg: „Das Äußere hat nichts mit dem Charakter zu tun. Helft – egal, wie Menschen aussehen oder sich kleiden.“