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Nahtoderfahrungen Kurztrip ins Jenseits: „Ich hatte keine Blümchen, keinen Jesus, kein Licht“

Was kommt nach dem Tod? Menschen, die sich in lebensbedrohlichen Situationen befunden haben, berichten in Ostdeutschlands einziger Nahtod-Selbsthilfegruppe von außergewöhnlichen Erfahrungen, Liebe und Horrorszenarien.

Von Robert Horvath 12.03.2025, 15:30
Einige Personen, die sich an der Grenze zwischen Leben und Tod befunden haben, erzählen im Nachhinein davon, sich durch einen Tunnel auf ein helles Licht zubewegt zu haben.
Einige Personen, die sich an der Grenze zwischen Leben und Tod befunden haben, erzählen im Nachhinein davon, sich durch einen Tunnel auf ein helles Licht zubewegt zu haben. (Foto: Imago/Yay Images)

Magdeburg/Halle (Saale)/MZ. - An den Unfall selbst hat Frank keinerlei Erinnerung. Im Nachhinein sei ihm allerdings berichtet worden, wie sich alles zugetragen haben soll. Um einen Stromzähler abzulesen, führt ihn sein Weg ins Dachgeschoss eines Kunden. Doch was wie fester Boden erscheint, ist lediglich Pappe, die zwischen den Dachbalken ausgelegt ist. Er stürzt in die Tiefe. Kommt mit zahlreichen Verletzungen ins Krankenhaus: Lungen- und Schädel-Hirn-Trauma, gebrochene Rippen und Gliedmaßen. Die Ärzte ringen tagelang um sein Leben. Erst in der Klinik kommt er wieder zu sich. Doch schon direkt nach dem Unfall erlebt er Dinge, die er nicht zuordnen kann. Surreale Dinge.

Er habe sich damals selbst von oben gesehen, wie er verletzt aus dem Haus kroch, sagt Frank. Und nicht nur das. Doch sein Erlebnis konkret zu erklären, sei für ihn schwer möglich. „Das wäre in etwa so, als müsse man einem Blinden den Unterschied zwischen rot und grün verdeutlichen.“ Als er weiterspricht, ringt er mit Worten, knetet die Hände. Um ihn herum sei so viel mehr gewesen als normalerweise. „Es war viel größer, viel intensiver. Es war alles gleichzeitig. Ich war in der Liebe, in der Wahrheit. Ich war Teil von allem. Ich wusste alles.“ Das ist mittlerweile vier Jahre her. Seither habe sich sein Blick auf Raum und Zeit, auf Leben und Sterben verändert. Das, wovon Frank spricht, war eine Nahtoderfahrung.

Studie: Deutschlandweit 3,6 Millionen Betroffene mit Nahtoderfahrungen

Mit dem Erlebten ist Frank nicht allein. Das zumindest legt eine Studie der TU Berlin mit 2.000 Befragten nahe. 4,3 Prozent der Teilnehmer gaben an, bereits Nahtoderfahrungen gemacht zu haben. Herkunft, Geschlecht und Glauben der Befragten spielten dabei keine Rolle. Hochgerechnet auf Sachsen-Anhalts Bevölkerung wären das etwa 95.000, deutschlandweit sogar 3,6 Millionen Menschen. Doch trotz zahlreicher Erlebnisberichte sind Forscher bis heute nicht in der Lage, das Phänomen wissenschaftlich zu erklären.

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Als Frank von seinem Kontakt mit dem Jenseits erzählt, sitzt er mit zehn weiteren Personen an zusammengerückten Tischen. Darauf stehen Kerzen und Namensschilder. Letztere sind eine alte Gewohnheit, die Anwesenden kennen einander eigentlich schon lange. Sie gehören zur Selbsthilfegruppe für Nahtod- und Grenzerfahrungen, die sich einmal im Monat im Bürgerhaus Cracau in Magdeburg trifft. Die meisten von ihnen, so erzählen sie es, eint der unfreiwillige und vorübergehende Verlust des Bewusstseins. Beispielsweise ausgelöst durch Unfall oder Krankheit.

Zweck der Selbsthilfegruppe ist es, sich nach dem Erlebten gegenseitig beizustehen und auszutauschen. Denn Nahtoderfahrungen seien oft lebensverändernd. In Ostdeutschland – Berlin ausgenommen – ist diese Gruppe die einzige ihrer Art. Bundesweit gibt es hingegen 15 solcher Anlaufstellen.

Einziger Treff in Ostdeutschland: Menschen mit Nahtoderfahrungen kommen in Selbsthilfegruppe in Magdeburg zusammen

Daniela Hanke ist die Leiterin der Gruppe. Auch sie hat eine Nahtoderfahrung durchlebt. Als sie im Jahr 2009 aufgrund einer schweren Erkrankung in der Klinik lag, erlitt sie plötzlich einen Atemstillstand. „Es war, wie durch einen Tunnel zu schweben, hin zu einem Licht und dann in dieses Licht hineinzukommen. Für mich fühlte es sich an, wie aus diesem kranken Körper in einen riesengroßen Wattebausch zu fallen. Es fühlte sich an, wie nach Hause zu kommen. Ich bezeichne es als bedingungslose Liebe. Es war vollkommen und frei.“

Hieronymus Boschs Gemälde „Aufstieg der Seligen“ zeigt unter anderem einen Tunnel. An seinem Ende ein Licht. Ein Motiv, von dem Betroffene mit Nahtoderfahrungen immer wieder berichten.
Hieronymus Boschs Gemälde „Aufstieg der Seligen“ zeigt unter anderem einen Tunnel. An seinem Ende ein Licht. Ein Motiv, von dem Betroffene mit Nahtoderfahrungen immer wieder berichten.
Gemälde: Hieronymus Bosch

In dieser Situation habe auch sie ihren im OP-Saal liegenden Körper von außen gesehen, sagt Hanke. Und einzelne Szenen aus ihrem Leben. Situationen mit Familienmitgliedern, mit vertrauten Menschen. Wie lang das gedauert und in welcher Reihenfolge dies stattgefunden habe, könne sie nicht sagen. Die Wahrnehmung der Zeit sei in diesem Zustand eine andere. Weil sich das Erlebte jeglicher Erfahrung entziehe, sagt Hanke wie zuvor Gruppenmitglied Frank, sei der Zustand schwer zu beschreiben.

Das Ende dieser Erfahrung habe sich so angefühlt, als ob sie zurück in ihren Körper gezogen wurde. Allerdings mit Widerstand. „Als ob man sagt: Lass mich doch noch ein bisschen bleiben.“ Und trotz der damaligen Krankheit ist sie inzwischen froh darüber, dass sie diese Bewusstseinserfahrung „machen durfte“. Im Anschluss an das Erlebte ratlos zurückgeblieben, erschien ihr die Welt in einem anderen Licht. Daniela Hanke machte sich auf die Suche nach Ansprechpartnern und Gleichgesinnten. Nach Orientierung und Austausch. Weil sie diese nicht fand, gründete sie 2022 die Selbsthilfegruppe.

Von diesen zehn Elemente berichten Menschen mit Nahtoderfahrungen immer wieder

Mittlerweile weiß sie, dass Nahtoderfahrungen, die sich „durch eine Situation an der Grenze zwischen Leben und Tod“ einstellen können, recht subjektiv sind. „Jeder erlebt das anders. Das lässt sich nicht verallgemeinern“. Doch es gebe auch Überschneidungen.

So nennt etwa der niederländische Kardiologe Pim van Lommel in seiner Studie aus dem Jahr 2002 zehn Elemente, von denen Menschen mit Nahtoderfahrungen immer wieder berichten. Dazu gehören das Erlebnis, sich durch einen Tunnel zu bewegen, positive Gefühle, außerkörperliche Erfahrungen, der Lebensrückblick, das Bewusstsein, tot zu sein, Kommunikation mit Licht, die Wahrnehmung besonderer Farben, Beobachtung einer Himmelslandschaft, das Zusammentreffen mit verstorbenen Angehörigen und/oder das Vorhandensein einer Grenze, deren Überschreitung wohl keine Rückkehr mehr erlaube. Veröffentlicht wurden die Befunde in der renommierten Medizin-Fachzeitschrift The Lancet. Grundlage waren Berichte von Überlebenden eines Herzstillstandes.

Betroffene von Nahtoderfahrungen fühlen sich oft unverstanden

Obwohl sich darunter jeder etwas vorstellen kann, stoßen die Gruppenteilnehmer bei den Versuchen, ihre Nahtoderfahrung zu schildern immer wieder an Grenzen. Im Bürgerhaus geht es deswegen auch um die Kommunikation mit dem Partner, Kindern oder Freunden. „Hier in dieser Runde habe ich jemanden, wo ich rumstammeln kann und die Leute wissen trotzdem, wovon ich spreche“, sagt Frank. Dafür sei er dankbar.

Die Teilnehmer der Selbsthilfegruppe für Nahtod- und Grenzerfahrungen treffen sich einmal im Monat in Magdeburg.
Die Teilnehmer der Selbsthilfegruppe für Nahtod- und Grenzerfahrungen treffen sich einmal im Monat in Magdeburg.
(Foto: Robert Horvath)

Regina, eine andere Teilnehmerin, pflichtet ihm bei. Sie weiß, es kann zu persönlichen Krisen oder Rückzug kommen, wenn man sich unverstanden fühle. Was Frank bedingungslose Liebe nennt, heißt bei ihr allumfassende Liebe. Ein anderer Teilnehmer spricht hingegen von einem Wohlfühlen, das er erlebt habe. Verschiedene Worte für dieselben Erfahrungen?

Doch nicht alle Anwesenden haben Dinge erlebt, die sie im Nachhinein als schön oder angenehm beschreiben würden. „Ich hatte keine Blümchen, keinen Jesus, kein Licht“, erzählt Sebastian. Nach einer Infektion kam der heute 47-Jährige ins Krankenhaus, wurde dann ins künstliche Koma versetzt. Anfangs war nicht klar, ob er überleben würde. In den etwa zwei Wochen habe er „ein sehr ereignisreiches Innenleben“ gehabt.

Komapatient mit Nahtoderfahrungen: „Für uns alle war es real“

Was er gesehen habe, nennt er Filme. Und die seien überwiegend negativer, gar schockierender Natur gewesen. Ein Irrgarten, aus dem kein Entkommen möglich war, ein Schredder, der sich sein Bett samt Beinen einverleibte, aber auch Geräusche, die immer lauter und quälender wurden. Dem sei er ausgeliefert gewesen, erzählt Sebastian. Denn ein Fliehen oder Aufwachen war nicht möglich. Daneben habe er sich aber auch zeitlos und als „Teil von anderen Dingen“ gefühlt.

Ganz gleich, ob die Erfahrungen positiv oder negativ waren, oftmals stelle sich im Anschluss ein Bewusstseinswandel, ein anderer Blick auf die Welt und eine Veränderung der Werte ein, erklärt Gruppenleiterin Daniela Hanke. „Wir haben auch viele in der Gruppe, die dadurch zum Glauben gefunden haben.“ In welcher Form auch immer. „Wer derartige Erfahrungen erlebt hat, der sucht natürlich im späteren Leben. Wir alle sind auf der Suche. Nach Erklärungen und verstärkt auch nach dem Sinn des Lebens.“

Das Treffen neigt sich dem Ende zu. Am Ende bleibt die zentrale Frage, ob es sich bei diesen Erfahrungen um eine Art Notfallprogramm des Gehirns handelt. Um Einbildung im Zuge eines Synapsenfeuerwerks, das das Sterben erträglicher machen soll. Oder haben die Betroffenen womöglich tatsächlich Einblicke in eine Welt erhalten, die uns nach dem Tod erwartet? „Für uns war es real“, bilanziert Sebastian. Auch die Gruppenleiterin stimmt zu: „Wir sind nicht verrückt. Wir sind normal, mit einer besonderen Erfahrung.“