Flammentod am Bahnübergang Flammentod am Bahnübergang Langenweddingen: Vor 50 Jahren starben 94 Menschen, darunter 44 Kinder
Langenweddingen - Es ist genau 7.43 Uhr an diesem 6. Juli 1967, als Robert B. die erste verhängnisvolle Entscheidung eines Tages trifft, an dessen Ende 77 Menschen tot sind und das Bördeörtchen Langenweddingen zum Schauplatz der größten Eisenbahn-Katastrophe der DDR geworden sein wird.
B., 63 Jahre alt und ein erfahrener Eisenbahner, der in Langenweddingen als Fahrdienstleiter und Schrankenwärter zugleich fungiert, bekommt den Güterzug 8341 von Blumenberg angekündigt. Ein Routinevorgang, wie jeden Tag. Auf den Robert B. wie immer reagiert, indem er nicht reagiert. Die Dampflok 50 3626 mit den beiden Güterwagen darf auf Gleis 3 durchfahren, ohne dass die Schranken am Stellwerk geschlossen werden. Der 8341 kriecht so langsam an den offenen Schranken vorbei. Obwohl das Bahnhofsbuch vorschreibt, dass bei allen aus Richtung Blumenberg einfahrenden Zügen die Schranke zur stark befahrenen F 81 (heute B 81) geschlossen werden müssen. Doch es ist noch nie etwas passiert.
Und es passiert auch heute nichts, jedenfalls nicht gleich. Erst als zehn Minuten später der Personenzug P 852 aus Magdeburg angekündigt wird, nimmt die Tragödie ihren Lauf. Robert B. eilt hinaus, um am Windenbock beidhändig alle vier Schlagbäume der Schranke der Bauart „Einheit“ herunterzudrehen. Die Schranke wurde erst im Jahr zuvor neu am Stellwerk aufgebaut, nachdem die alte bei einem Unfall beschädigt worden war. Den nahenden Zug kann B. bereits sehen, er kurbelt an der Schranke, merkt aber, dass sich die beiden südlich gelegenen Bäume nicht wie üblich durch energisches Hin- und Herkurbeln senken lassen. Eine der Halbschranken verfängt sich immer wieder in einem Fernmeldekabel, das quer über der Straße verläuft.
Zugunglück in Langenweddingen: Festklemmende Schranke nicht freibekommen
B. müsste jetzt aufgeben. Der P 852 ist noch anderthalb Kilometer entfernt, B. sieht den Rauch der Lokomotive Bauart 22022, die neben einem Gepäckwagen zwei Doppelstockeinheiten zieht. In der ersten sitzt auch Familie Sturm aus Roßlau. Mutter Erika ist Reichsbahn-Assistentin und sie hat in diesem Jahr das große Los gezogen. Gemeinsam mit Ehemann Kurt und den beiden Söhnen Herbert (14) und Hartmut (11) darf die 41-Jährige zum Urlaub in den Harz fahren. Es sind noch 50 Kilometer bis Thale, bis in die großen Ferien, als sich der P852 Langenweddingen nähert. Dort hat Robert B. inzwischen den Versuch aufgegeben, die festklemmende Schranke durch Kurbeln freizubekommen.
Stattdessen läuft er mit einer Signalflagge ausgerüstet auf die Halberstädter Seite des Schienenstrangs, um einen von dort nahenden Lkw-Omnibus zu stoppen. Das Signal für den Zug hat B. zuvor nicht auf Halt gestellt, er sieht auch den anderen Laster nicht, der sich von der gegenüberliegenden Seite nähert. B. winkt, die Schranke ist offen, der Zug kommt mit rund 85 Kilometern pro Stunde näher. Es geht um Sekunden, um 60, vielleicht 80. Die Männer auf der Lok können nicht erkennen, dass die Schranken offen sind. Das Warnsignal eines entgegenkommenden Zuges geht in den Betriebsgeräuschen ihrer Lokomotive unter. Wenige Meter vor dem Übergang erkennen Lokführer und Heizer die drohende Gefahr.
Zug rammt Tanklaster, der mit 15.000 Litern Benzin beladen war
Die Schnellbremsung kommt zu spät. Um 7.58 Uhr trifft der rechte Puffer der großen Dampflok den Tanklaster des DDR-Kraftstoffkombinates Minol, der mit 15.000 Litern Benzin beladen ist. Der Lastwagen wird herumgeschleudert, der Tank bricht und das Benzin spritzt auf die vorbeifahrenden Doppelstockwaggons mit den rund 250 Fahrgästen. Im ersten sitzen neben den Sturms auch 51 Kinder und neun Erwachsene, die unterwegs in ein Ferienlager des Baustoffwerkes Magdeburg sind - über sie bricht ein Inferno herein.
Explosionsartig entzündet sich der leicht entflammbare Treibstoff. Es gelingt dem Heizer von Lok 22 022 noch, vom brennenden Zug abzukoppeln, den Menschen im Zug aber hilft das nicht mehr. Hans-Günter Bodewell reagiert sofort. „Raus hier, so schnell wie möglich“, beschreibt er 50 Jahre später seine Gedanken. „Da denkt man überhaupt nicht nach.“ Viele andere bewegen sich nicht. „Die waren geschockt. Heute verstehe ich das, damals fand ich es unverständlich.“
Draußen auf dem Bahnsteig hört Bodewell die verzweifelten Schreie der Menschen im Zug. „Die Tür zum ersten Waggon stand ein Stückchen offen“, erinnert er sich. Er, der damals 17-jährige Schüler, rennt hin, reißt die Tür auf, Hitze schlägt ihm entgegen, fast 1 000 Grad Celsius. Es gelingt ihm, eine Mutter und ihr Kind ins Freie zu ziehen. „Das Kind stand voll in Flammen.“ Bodewell reißt sich das Hemd vom Leib, wickelt das Kind damit ein und erstickt die Flammen. Auch der Lehrer Werner Moritz aus Rogätz wird zum Helden, der 13 Schüler aus der Flammenhölle holt und selbst dann noch weiter macht, als er sich selbst schon schwere Verbrennungen zugezogen hat. Moritz stirbt später an seinen Verletzungen, eines von am Ende insgesamt 94 Opfern des größten DDR-Eisenbahnunglückes, das auch die gesamte Familie Sturm auslöscht.
Provisorium ohne Genehmigung mit Folgen
Warum, fragen die, die überlebt haben. Warum, fragen die Leute in Langenweddingen, dessen Bahnhof am Tag danach einer Ruine gleicht. Und warum fragen auch Ermittler von Kriminal- und Transportpolizei, Innenministerium und Staatssicherheit. Schnell stoßen die Experten auf das hängende Kabel, das knapp anderthalb Jahre zuvor verlegt worden war. Nach der Erneuerung der Schrankenanlage hatte es immer wieder Probleme mit der Fernsprechverbindung gegeben, wenn die Schranken geöffnet wurden. Als Provisorium verlegen Techniker der Deutschen Post deshalb ein neues Kabel, ohne den vorgeschriebenen Stahldraht als Halterung, ohne Abnahme oder Genehmigung. Und mit der Folge, dass der in der Sommerhitze zunehmend durchhängende Draht das Schließen der Schranken behindert. Das kurzfristige Provisorium bleibt bestehen. Denn es ist wie fast überall in der DDR: zu wenig Leute, zu wenig Kapazitäten, kein Material.
Am Ende der polizeilichen Ermittlungen sind es trotzdem Robert B. und sein Vorgesetzter Günter M., die wegen fahrlässiger Transportgefährdung in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung angeklagt werden. Obwohl sie die ihnen spätestens seit Dienstübernahme am Morgen des Unglückstages bekannte Behinderung als „drohende Betriebsgefahr“ hätten ansehen müssen, sei es von ihnen unterlassen worden, die „zwingend vorgeschriebenen Sicherheitsmaßnahmen einzuleiten“, heißt es im Untersuchungsbericht. Damit hätten die beiden Bahner „unmittelbar die Ursachen für die Kollision des P 852 mit dem Minol-Tankwagen“ gesetzt.
Urteil nach Zugunglück: Fünf Jahre Haft für beide Angeklagte
Schon Ende August, keine zwei Monate nach der Katastrophe, beginnt in Magdeburg der Prozess gegen B. und M. Beide Angeklagte räumen ihre Schuld gleich zu Beginn ein. Trotzdem werden 25 Zeugen und Sachverständige gehört, die vor allem berufen sind, nachzuweisen, dass kein systemisches Versäumnis die Geschehnisse des 6. Juli verursacht hat.
Am 4. September fällt der 2. Strafsenat des Bezirksgerichtes sein Urteil. Fünf Jahre Haft für beide Angeklagte, die Höchststrafe. Eine Berufung wird bereits Anfang Oktober verworfen. Fahrdienstleiter Robert B. nimmt sich später in der Haftanstalt das Leben.
Tod im Zug: Immer wieder kommt es im Zugverkehr zu Unglücksfällen mit vielen Toten
10. Juli 1973: In Leipzig-Leutzsch entgleist ein Zug infolge überhöhter Geschwindigkeit. Der Lokführer hat zuvor das Signal für Tempo 40 übersehen, die Lok springt auf einer Weiche aus dem Gleis und bohrt sich in das Fahrdienstleiterstellwerk. Der Lokheizer kann sich durch einen Sprung von der Lok retten, vier Menschen sterben, darunter der Lokführer.
27. Juni 1977: Zwei Züge prallen bei Lebus (Märkisch-Oderland) frontal aufeinander, nachdem ein Weichenwärter einen von wenig erfahrenem Personal geführten Urlauberzug irrtümlich auf die falsche Strecke geleitet hat. 29 Menschen sterben.
27. November 1977: Der Kessel einer Dampflok bei Bitterfeld explodiert, nachdem versäumt worden ist, rechtzeitig Wasser nachzutanken. Der Kessel fliegt rund 40 Meter durch die Luft, Glut setzt einen anderen Zug in Brand, sieben Menschen sterben, 50 werden durch herumfliegende Trümmer zum Teil schwer verletzt.
29. Februar 1984: Der Transitschnellzug D 354 von Berlin über Frankfurt (Main) nach Saarbrücken fährt in dichtem Nebel nach der Missachtung von mehreren Signalen im Bahnhof Hohenthurm bei Halle auf den gerade anfahrenden P 7523 auf. Elf Menschen werden getötet und 46 verletzt.
19. Januar 1988: Ein sowjetischer Panzer versucht, vor dem D 716 von Leipzig nach Stralsund die Gleise zu überqueren. Der Panzer bleibt liegen, der D 716 fährt frontal auf. Der Lokführer des Schnellzuges findet bei diesem Unglück den Tod, mehrere Reisende werden schwer verletzt.
15. Februar 1988: Der „Rennsteig“-Express von Meiningen nach Berlin-Lichtenberg fährt am Abzweig Eichgestell auf einen anderen Zug auf. Ein Reisender verunglückt tödlich.
3. Juni 1998: Der ICE 884 entgleist im niedersächsischen Eschede wegen eines gebrochenen Radreifens. 101 Menschen sterben, 88 werden verletzt. Eschede ist das schwerste Zugunglück der deutschen Nachkriegsgeschichte. (mz)