Esperanto in Sachsen-Anhalt Mit Video: Weltsprache oder fixe Idee? Darum kämpft Jörg Gersonde für eine Utopie
Mit Esperanto ist die Utopie verbunden, die Welt zu vereinen. In Sachsen-Anhalt beherrschen etwa 40 Menschen die Kunstsprache. Jörg Gersonde gehört zu den eifrigsten Kämpfern für die Idee.
Halle/MZ - Er wartet nicht lange, dann packt er einen Stapel mit Heften und Kopien aus. Jörg Gersonde zieht ein kleines Buch hervor und legt es auf den dunklen Schreibtisch in seinem Büro. „Damit fing es an“, sagt er. Als Jugendlicher stöberte er in der Bibliothek in Schwerin. Und plötzlich stand da dieses Buch: „Taschenlehrbuch Esperanto“ ist der Titel, Erstauflage 1978 in der DDR. „Das klang interessant. Und dann habe in einem halben Jahr die Sprache gelernt“, sagt Gersonde.
Im Video: Die Kunstsprache Esperanto in Sachsen-Anhalt
Der Mathematiker ist Professor an der Landwirtschaftlichen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU). Auch nach Jahrzehnten ist er begeistert von der Kunstsprache Esperanto und dem Traum einer gemeinsamen Sprache für alle. Gersonde ist einer von vielleicht 40 Menschen in Sachsen-Anhalt, die sich Esperantisten nennen. Es gibt keinen Landesverband und keine Ortsgruppen mehr, in Halle zum Beispiel existiert nur noch eine kleine Gruppe von vier Leuten.
Esperanto - Traum von einer "leichten" Sprache
Auf den ersten Blick ist von den Hoffnungen nicht viel geblieben: Esperanto sollte mal eine Weltsprache werden. Vor mehr als 130 Jahren hatte der polnisch-jüdische Augenarzt Ludwik Lejzer Zamenhof die künstliche Plansprache Esperanto erfunden. Sie sollte leichter als jede andere Sprache zu lernen sein: ein Artikel, Kleinschreibung, die Grammatik ist simpel. Zamenhof verband damit eine Gesellschaftsutopie, in der sich alle Menschen gleichberechtigt verständigen können, Völker friedlich zusammen leben. Der Wille zur Völkerverständigung brachte vor dem Ersten Weltkrieg einen Boom an Plansprachen hervor – die am weitesten verbreitete ist heute Esperanto.
Wer nicht Esperanto spricht, hält die Sprache vielleicht für eine fixe Idee. Der Deutsche Esperanto-Bund schätzt aber, dass weltweit 500.000 bis zwei Millionen und in Deutschland zehntausende Menschen Esperanto sprechen. Der heute 58-Jährige gebürtige Schweriner Gersonde gehörte zu DDR-Zeiten zu den Exoten, die diese Sprache beherrschten. Er kaufte sich regelmäßig die Zeitschrift „Der Esperantist“, für 30 Pfennige. Da war die Stimmung schon liberaler, bis 1961 war die Sprache in der DDR verboten. „Das Esperanto galt als eine Geheimsprache, mit der totalitäre Systeme immer ein Problem haben. Da schwang immer der Verdacht subversiver Tätigkeiten mit.“ Doch in den 1980er Jahren soll es sogar Pläne gegeben haben, die Sprache als Schulfach einzuführen.
Ich hatte nur das Buch und die Zeitschriften und konnte die Stadtführung auf Esperanto machen – das ist doch genial.
Jörg Gersonde, Esperantist
Gersonde hatte lange keinen Kontakt mit anderen Esperantisten. In Schwerin gab es zwar eine größere Gruppe, aber er verließ die Stadt bald. Mit 16 Jahren kam er nach Halle, weil es dort eine Mathematik-Spezialklasse an der Universität gab. Diese Klassen sollten hochbegabte Schüler fördern. Gersonde hatte in Schwerin mehrere Mathe-Olympiaden gewonnen. Woher die Begabung kommt, weiß er selbst nicht genau. „Ich bin schon immer ein eher analytischer Typ.“ Nach dem Abitur studierte er Mathematik in Halle. Seit 1981 ist er an der MLU, über 40 Jahre.
Den ersten Kontakt zu anderen Esperantisten suchte er erst nach der Wende, als sich der Landesverband neu aufstellte. „Ich traf mich mit anderen in Halle. Und Mitte der 1990er Jahre kam eine Gruppe Homöopathen aus Brasilien nach Köthen, wo ich inzwischen mit meiner Frau und Tochter wohnte.“ In der Stadt hatte einst der Begründer der Homöopathie, Samuel Hahnemann, gelebt. Die Gruppe wollte eine Stadtführung. „Ich hatte nur das Buch und die Zeitschriften und konnte die auf Esperanto machen – das ist doch genial.“
Esperanto ist Mix aus verschiedenen Sprachen - eine eigene Welt
Im Prinzip ist Esperanto eine Mischung aus verschiedenen Sprachen, die Wortstämme stammen vor allem aus romanischen Sprachen wie Französisch, Italienisch und Latein, aber auch aus dem Englischen und Deutschen. „Viele Worte sind auch international bekannt“, sagt Gersonde. „Das Wort ,Telefono’ gibt es zum Beispiel in vielen Sprachen.“ Gersonde redet sich in seine Sprachbegeisterung hinein, verliert sich in Details, um die Einfachheit von Esperanto zu erklären. Es spricht aus ihm auch ein gewisser Stolz, Teil dieser eigenen Welt zu sein. Das erste Wörterbuch hatte weniger als 1.000 Worte. „Aber die Sprache entwickelt sich immer weiter, es können neue Worte eingebracht werden. Das ist eine Bürgerbewegung, bei der die Sprechergemeinschaft die weitere Entwicklung bestimmt.“
Esperantisten sind weltweit organisiert und vernetzt, verbreitet ist die Sprache auch in China, Japan oder Brasilien. Der Esperanto-Weltbund hat nach eigenen Angaben Mitglieder in 130 Ländern, es gibt eigene Verlage und Publikationen. Jedes Jahr finden auf der ganzen Welt Kongresse und Treffen auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene statt. An Ostern gab es beispielsweise eine Esperanto-Woche in Wittenberg, dort war auch Gersonde mit seiner Frau und Tochter. „Im Sommer vergeht kein Tag, an dem nicht irgendetwas ist“, sagt er. „Man bekommt da von der Außenwelt nicht mehr mit, man ist komplett in Esperanto.“ Er hält auch Kontakt über E-Mail, hört einen Radio-Podcast aus Warschau.
Man erreicht nur schwer junge Leute, und die aktiven Esperantisten werden älter.
Jörg Gersonde, Esperantist
In Deutschland ist Herzberg im niedersächsischen Harz eine Art Esperanto-Zentrum. Die Kleinstadt bezeichnet sich seit 2006 als „la Esperanto-urbo“, die Esperanto-Stadt. Beschilderungen und Speisekarten in Restaurants sind teilweise zweisprachig. „Das ist kein Zufall, sondern harte Arbeit“, erklärt Gersonde. „Vor Ort gab es viele Engagierte, die über Jahre auch die politischen Gremien überzeugten. Dort existiert eine der größten Esperanto-Bibliotheken weltweit.“ Doch insgesamt ist die Nachwuchsarbeit schwierig. „Man erreicht nur schwer junge Leute, und die aktiven Esperantisten werden älter.“ Der Deutsche Esperanto-Bund hatte sich kürzlich optimistisch gegeben: Durch das Internet sei die Plansprache sichtbarer geworden und immer mehr junge Menschen würden sie über Online-Angebote lernen.
Doch der Traum von der einen umfassenden Weltsprache – ist der nicht geplatzt? Durchgesetzt hat sich Esperanto nicht, in keinem Land der Welt ist es Amtssprache. Gründe dafür gibt es viele. So dominierte Englisch bereits damals als Weltsprache. Esperanto wird auch in keinem Schulsystem gelehrt und politisch nicht gefördert. Gersonde wird emotional, wenn er darauf etwas sagen soll. „Für mich hat sich Esperanto durchgesetzt. Es gibt ja eine Weltgemeinschaft, weil es in so vielen Ländern gesprochen wird, weil es ein großes Netzwerk gibt. Man muss sich erst anschauen, was das Esperanto ist, bevor man es kritisiert.“ Aber auch er weiß: „Weltfrieden ist ein glorreiches Ziel, aber Sprache kann die politischen Konflikte nicht lösen.“ Vielmehr solle es darum gehen, dass Esperanto Verbindung schafft.
Esperanto - durch Unterricht zur Weltsprache - Politischer Wille gefordert
Für die meisten bleibt die Sprache vermutlich exotisch. Um sich breiter verständigen zu können, lernt ein Großteil der Bevölkerung Englisch. „Man muss neidlos zugeben, dass das für die meisten das probatere Mittel ist“, so der Köthener. „Man muss aber auch sehen, woher diese Vorherrschaft des Englischen kommt. Sie beruht auf Ökonomie und auf der Kolonialisierung. Manche Länder wollen auch weg von der Kolonialsprache.“ Und es gebe ja dennoch Millionen Menschen, die kein Wort verstehen, wenn sie auf Englisch angesprochen werden.
Die Weltkulturorganisation Unesco hatte Esperanto durch eine Resolution wiederholt unterstützt: Sie fordert Mitgliedsstaaten auf, den Unterricht in Schulen und den Gebrauch voranzutreiben. „Es gibt aber keine Verpflichtung und so bleibt das meiste dem Engagement der Gemeinschaft überlassen.“
Gersonde hat den Traum von der einenden Sprache noch nicht aufgegeben, doch sie müsse besser gefördert werden. „Das System ist gut, es ist ein einfaches Mittel da, die Sprache ist modern und praktikabel. Warum nutzt man sie nicht?“ Er fordert, Esperanto als Schulfach und offiziell als EU-Sprache anzuerkennen. „Fehlende Vokabeln könnte man schnell nacharbeiten.“ Hat Esperanto noch eine Chance? „Immer! Das Fundament ist da, man muss es nur selbst wollen. Und es muss politischer Wille werden.“