17. Juni 1953 in Sachsen-Anhalt Der Flächenbrand: So entwickelte sich der Volksaufstand in der DDR
Erst ging es um Zwangskollektivierung und Normerhöhungen, dann um freie Wahlen und die deutsche Einheit: Vor 70 Jahren, am 17. Juni 1953, begehrte in der DDR das Volk gegen den SED-Staat auf.
Halle/MZ - In der DDR gärt es schon Wochen vor dem 17. Juni 1953. In Industriebetrieben und auf Baustellen wächst die Wut über die Ende Mai verordnete Erhöhung der Arbeitsnormen um zehn Prozent, in der Landwirtschaft der Ärger über die Kollektivierung – selbstständige Bauern werden in Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften getrieben. Hier und da legen Industriebeschäftigte schon die Arbeit nieder, begehren Bauern gegen örtliche SED-Funktionäre auf.
Doch am 17. Juni, einem Mittwoch, wird aus dem Schwel- ein Flächenbrand. Das Auftaktzeichen setzen Bauarbeiter aus der Ost-Berliner Stalinallee und von der Krankenhaus-Baustelle im Stadtbezirk Friedrichshain: Aus Protest gegen die höheren Normen, de facto eine Lohnkürzung, gehen sie am 16. Juni auf die Straße, nachdem tags zuvor auf einigen Baustellen bereits gestreikt worden ist.
Den Demos schließen sich schnell Tausende an. Für den 17. Juni wird ein Generalstreik ausgerufen. West-Berliner Zeitungen, der Rias („Rundfunk im amerikanischen Sektor“) und andere West-Sender berichten. Zwar ist die Medienversorgung nicht vergleichbar mit heute, doch West-Radio ist in vielen Orten der DDR empfangbar.
17. Juni 1953: Eine Demonstrationswelle erfasst die DDR. Einer der Schwerpunkte: das Chemiedreieck
So verbreiten sich die Nachrichten aus Berlin schnell in der ganzen Republik – am 17. Juni rollt eine Welle von Streiks und Demonstrationen durchs Land, erfasst mehr als 700 Städte und Gemeinden. Die Schwerpunkte: Großstädte wie Halle oder Magdeburg, Industriezentren wie Buna und Leuna, Bitterfeld und Wolfen.
In den Betrieben streiken Zehntausende und formieren sich zu Protestzügen. Vielerorts werden Häftlinge aus den Gefängnissen befreit – 1.400 kommen nach Schätzungen landesweit frei. Die Demonstranten entfernen Propagandalosungen und -bilder, auch in Kleinstädten und Dörfern. Parteibüros, Rathäuser und Gerichte werden gestürmt, zum Teil geplündert, Funktionäre verprügelt. Längst geht es um mehr als um Normerhöhungen oder die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft. Die Protestler fordern freie Wahlen, die deutsche Einheit.
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Wie viele Menschen haben sich beteiligt am Aufstand? Bis heute gibt es nur Schätzungen, sie schwanken zwischen 400.000 und 1,5 Millionen. Ihre Wut wird noch gesteigert durch die Verwirrung um den von Partei- und Staatsführung wenige Tage zuvor ausgegebenen „Neuen Kurs“ hin zu einer gemäßigteren Politik. Oft wissen die örtlichen Funktionäre gar nicht, was die obersten Genossen in Berlin da eigentlich beschlossen haben. Und die Normerhöhungen werden im „Neuen Kurs“ gar nicht erwähnt. Dass das SED-Politbüro am 17. Juni deren Rücknahme ankündigt – zu spät. Staat und Partei ist der Aufstand längst entglitten – und damit das Volk.
Nachdem die Sowjets den Volksaufstand niedergeschlagen haben, rollt eine Verhaftungswelle an
Bis die Rote Armee eingreift. Ab dem Nachmittag rollen nahezu überall sowjetische Panzer an. Sie sichern Gefängnisse, Betriebe, Marktplätze, treiben Menschenmengen auseinander. In 167 von 217 Landkreisen und kreisfreien Städten verhängen die Sowjets den Ausnahmezustand.
Um 21 Uhr folgt eine republikweite nächtliche Ausgangssperre. Der von der Staats- und Parteiführung flugs zum „faschistischen Putsch“ umgedeutete Volksaufstand – er ist vorbei. Nun rollt eine Verhaftungswelle an. Nach Schätzungen werden bis in den Juli 15.000 Menschen im Zusammenhang mit den Ereignissen des 17. Juni festgenommen. Gerichte verhängen die ersten Todesurteile.
Wie viele Tote der Aufstand gefordert hat, ist bis heute nicht klar. Laut Historikern sind 55 Todesopfer durch Quellen belegt, Schätzungen gehen aber von bis zu 125 Toten aus. Sie sind vor allem im Bezirk Halle (16), in Ost-Berlin (14) und im Bezirk Magdeburg (zehn) zu beklagen.
Die meisten Opfer werden von Volkspolizisten oder Sowjetsoldaten erschossen, sieben Menschen zum Tode verurteilt und hingerichtet. Einige sterben in der Haft. Auch Sicherheitskräfte sind unter den Toten, fünf Fälle sind belegt.
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Dennoch gärt es auch nach dem 17. Juni weiter. Manche Betriebe werden erst einen Tag später bestreikt, in anderen die Streiks noch Tage fortgesetzt. So sind in Halle am 18. Juni sogar mehr Menschen im Ausstand als tags zuvor. Aber etwas ist anders: Die Streikführer des Vortages sind entweder untergetaucht, in den Westen geflohen oder im Gefängnis. Die fortgesetzten Streiks – sie sind auch eine Solidaritätsbekundung mit den Inhaftierten.