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Bürgermeister in der Altmark Bürgermeister in der Altmark: Andreas Brohm macht Lust aufs Landleben

17.05.2017, 11:37
Zukunft trifft Vergangenheit: Andreas Brohm vor dem „Alten Schloss“ in einem Bauteil, wie die örtliche Gießerei sie für die Wasserversorgung in Katar fertigt.
Zukunft trifft Vergangenheit: Andreas Brohm vor dem „Alten Schloss“ in einem Bauteil, wie die örtliche Gießerei sie für die Wasserversorgung in Katar fertigt. Andreas Stedtler

Tangerhütte - Wenn man ihn fragt, was ihn antreibt, dann erzählt Andreas Brohm gerne die Geschichte von der Jugendweihe-Feier. Kulturhaus Tangerhütte, ein Sonnabend Ende April, ein großer Tag für 45 Mädchen und Jungen. Brohm hält die Festrede, und er gibt den jungen Leuten etwas mit auf den Weg: „Ich hoffe, dass Sie mal in die Welt rausgehen. Und wenn die Leute fragen, wo Sie herkommen, und Sie sagen, aus Tangerhütte, dann wünsche ich Ihnen, dass es heißt: Ach ja, das kenne ich, das ist eine coole Region an der Elbe mit tollen Unternehmen!“ Gelächter im Publikum, aber er meint es ernst.

Andreas Brohm: Altmark soll attraktiver werden

Brohm, weißes Hemd, dunkles Sakko, keine Krawatte, ist Bürgermeister in der 11.000-Einwohner-Stadt in der Altmark. Aber was heißt Bürgermeister? Brohm ist nicht nur der Chef im Rathaus. Er ist auf Twitter und Facebook unterwegs, er postet Neuigkeiten aus der Altmark in die Welt hinaus, er hat eine eigene Website. Andreas Brohm ist Marketingchef seiner Stadt. Er sagt: „Sie können eine Kommune nicht verkaufen ohne eine Persönlichkeit dahinter.“

Was er möchte: Menschen. „Wir brauchen Zuzug.“ Nach Prognosen sollen 2030 in Tangerhütte nur noch 9.500 Einwohner leben. Im vorigen Jahr verzeichnete die Statistik 180 Todesfälle, aber nur 63 Geburten. Geht es nach Brohm, soll die Altmark attraktiv werden für Menschen, welche die Nase voll haben vom Großstadtstress.

Menschen wie Andreas Brohm. Aufgewachsen in Tangerhütte, hier Abi gemacht, dann Studium der Betriebswirtschaftslehre in Leipzig, Spezialisierung auf Steuern und Controlling. Klingt dröge, aber nach der Uni ließ Brohm es rocken. Acht Jahre lang zog er als Musical-Manager durch Europas Metropolen.

Andreas Brohm im ersten Wahlgang mit 73 Prozent gewählt

Damals: Köln und Berlin, Zürich und Basel, „We will rock you“ und „West Side Story“. Künstler betreuen, Arbeitszeiten von Mittag bis Mitternacht.

Heute: Tangerhütte. Haushalt, Straßenbau und Jugendweihe. Bis Mitternacht geht es auch manchmal, wenn der Stadtrat lange tagt und danach alle noch ein Bier trinken gehen.

Andreas Brohm, verheiratet, zwei Kinder, hat seine Liebe zum Land entdeckt. „Ich wollte etwas machen, das bleibt“, sagt er. „Bei einer Musical-Tournee bauen sie auf und bauen wieder ab, über Jahre immer die gleiche Show. Das macht Spaß, aber irgendwann nutzt es sich ab. Da bleibt nichts.“ Als die Einwohner 2014 die damalige Bürgermeisterin aus dem Amt wählten, sah er seine Chance gekommen. Er kandidierte und schlug den einzigen Gegenkandidaten im ersten Wahlgang mit 73 Prozent aus dem Feld.

Schon in der Abizeitung stand Ende der 1990er Jahre über Brohm, er wolle mal Bundeskanzler werden. Er sagt, es gehe ihm darum „zu gestalten. Das können Sie als Bürgermeister“.

Sagt sich einfacher als es ist. Brohm hat jetzt den Vergleich: „In der Musical-Welt hat man ein Team und ein Ziel“, sagt er. „In der Kommunalpolitik hat man eine Verwaltung, Verwaltungsverfahren, die man einhalten muss, und demokratische Prozesse. Diese Welt muss man verstehen, das habe ich erst lernen müssen.“

Nur zwölf von 122 hauptamtlichen Bürgermeistern in Sachsen-Anhalt sind jünger als 40

Was er meint, zeigt sich auf einer Rundfahrt durch Tangerhütte. Plattenbaugebiet am „Neustädter Ring“: graue Fünfgeschosser, ein Supermarkt, ein halbleerer Parkplatz davor. Brohm deutet zwischen zwei Häusern auf einen Spielplatz. Seit zwei Jahren will die Kommune ihn erneuern, mit Fördermitteln des Landes. Seit zwei Jahren geht es nicht voran. Sie hatten eine Idee und beantragten Geld. Sie änderten die Idee, nun passte sie nicht mehr zum Fördermittelantrag. Brohm muss seitdem eine Menge erklären. Dem Land, seinen Stadträten und seinen Bürgern. „Das ist mühsam“, sagt er, „so hatte ich mir das nicht vorgestellt.“

Häufig haben Bürgermeister vorher bereits in der Verwaltung gearbeitet. Brohm, 38, darf nicht nur als Exot gelten, weil er ein Quereinsteiger ist. Sondern auch wegen seines Alters: Nur zwölf von 122 hauptamtlichen Bürgermeistern in Sachsen-Anhalt sind jünger als 40.

Politikwissenschaftler: „Wer gewählt werden will, muss die Wähler überzeugen.“

„Besorgniserregend“ findet das Roger Stöcker, Politikwissenschaftler an der Uni Magdeburg. Er sagt: „Wer gewählt werden will, muss die Wähler überzeugen.“ Dazu sei eine Basis notwendig, etwa ein Verein oder eine Partei. Doch letztere fördern aus seiner Sicht kommunalpolitischen Nachwuchs zu wenig. „Das Bürgermeisteramt ist häufig kein Sprungbrett für eine politische Karriere, sondern eher eine Sackgasse.“ Viele gut ausgebildete junge Leute zögen daher besser bezahlte Jobs in der Wirtschaft vor. Stöcker, selbst Jahrgang 1984, hält einen Generationswechsel in den Rathäusern für notwendig. „Junge Leute sind mit dem Internet aufgewachsen. Sie haben globalere Vorstellungen von politischen und gesellschaftlichen Prozessen. Das kann ein Gewinn sein.“ Deshalb seien auch mehr Seiteneinsteiger wünschenswert.

Leute wie Andreas Brohm, der in den sozialen Netzwerken unermüdlich für seine Stadt und für die Altmark trommelt. Neulich hat er über die Berliner Digitalkonferenz „re:publica“ getwittert, wo auch über digitale Infrastruktur auf dem Land geredet wurde. Sein großes Thema: das schnelle Internet. „Wir brauchen High-End-Glasfaser bis in jedes Haus.“ Auch in der Altmark müsse es möglich sein, mit einem Gigabit zu surfen. „Dann ist es egal, ob das Büro in der Großstadt ist oder hier bei uns.“ Er denkt vor allem an Zuzügler - junge Start-Up-Firmen aus Leipzig oder Berlin etwa, die sich dort die Miete nicht leisten können. „Denen müssen wir ein Angebot machen, für das es sich lohnt, hierherzukommen.“

Breitband-Ausbau: Kommunen in der Altmark setzen auf Zweckverband

Nachdem es in Sachsen-Anhalt seit Jahren nicht recht klappt mit dem Breitband-Ausbau, setzen Kommunen in der Altmark nun auf einen Zweckverband. Der soll leere Rohre verlegen für die Leitungen der Internet-Anbieter. Brohm hält Geld beim schnellen Netz sogar für besser angelegt als beim Autobahnbau.

„Wir brauchen nicht besser sein als die großen Städte“, findet er, „wir müssen nur das, was wir haben, besser herausstellen.“ Als da wären? „Ruhe, Entspannung, Entschleunigung, der beste Ort für Kinder zum Großwerden, niedrige Grundstückspreise.“ Brohm kennt einige, die diesem Charme schon erlegen sind. Etwa seine Nachbarn in seinem 88-Einwohner-Dorf, Ärzte, zugezogen aus Berlin. Das Dorf ist einer von 30 Ortsteilen Tangerhüttes, die sich über 300 Quadratkilometer Fläche verteilen. Der Bürgermeister spricht vom „Luxus der Leere“.

Manchmal ist die Leere aber auch eine Last. Im Plattenbaugebiet am „Neustädter Ring“ steht jede dritte Wohnung leer. Brohm lenkt seinen Wagen am „Altmärkischen Gymnasium“ vorbei. Drei Etagen, eine Sporthalle, umwuchert von Gestrüpp, eingezäunt. Ende der 1990er Jahre hat Andreas Brohm hier Abi gemacht, jetzt ist die Schule längst zu. „Können Sie kaufen“, sagt er, „30.000 Quadratmeter Grundstück gehören dazu.“

Große Vergangenheit - die Geschichte Tangerhüttes

Die Geschichte Tangerhüttes ist untrennbar verbunden mit der traditionsreichen örtlichen Eisengießerei. Gegründet 1842 als „Hütte am Tanger“, benannt nach einem nahen Flüsschen, lieferte die Gießerei über Jahrzehnte Kunstguss in alle Welt.

Auch heute ist das Unternehmen mit 175 Mitarbeitern international aktiv. So fertigt und liefert es Großarmaturen für ein modernes Wasserversorgungssystem in der Wüste Katars, wo 2022 die Fußball-Weltmeisterschaft stattfindet. Auch im Kreuzfahrtschiff „Queen Mary 2“ oder im „Burj Khalifa“, dem höchsten Gebäude der Welt in Dubai, stecken Bauteile aus Tangerhütte.

Der Ort neben dem Werk hieß bis 1928 Vaethen, wurde dann in Tangerhütte umbenannt und erhielt 1935 Stadtrecht. Die Kernstadt, ohne Ortsteile, zählt heute rund 6.000 Einwohner.

Gießerei-Gründer Johann Jacob Wagenführ hinterließ Tangerhütte nicht nur bedeutende Industrie. 1873 ließ er einen zwölf Hektar großen Park anlegen, der heute als herausragendes Ziel der landesweiten Tourismus-Route „Gartenträume“ gilt.

Besucher finden zwei schlossartige Villen, einen Wasserfall und einen Kunstguss-Pavillon, der auf der Pariser Weltausstellung 1889 mit einer Goldmedaille ausgezeichnet wurde. (mz)