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Nach Erdrutsch in Nachterstedt 2009 Nach Erdrutsch in Nachterstedt 2009: Verschüttete Schuld

Von Katrin Löwe und Hendrik Kranert-Rydzy 23.02.2016, 13:09
Das Sperrgebiet an der Abbruchkante am Concordiasee.
Das Sperrgebiet an der Abbruchkante am Concordiasee. Frank Gehrmann

Magdeburg/Nachterstedt - Ab und an kommen die Sonnenstrahlen durch die Wolken. Leuchten den Stein mit den Vornamen von drei Menschen an, die nur ein Stück weit entfernt in jenem Juli 2009 ihr Leben ließen. Ein Gesteck liegt davor, Friedhofsvasen stecken in dem kleinen Stück Wiese, hinter dem die Absperrung beginnt. Baustellenbaken stehen hier noch immer, in Nachterstedt (Salzlandkreis) - daran ein Schild: „Lebensgefahr“. In einem kleinen Container dahinter sitzen Männer vom Wachschutz. Bis auf diejenigen, die mit Sanierungsarbeiten am Concordiasee befasst sind, kommt hier niemand durch. Sechseinhalb Jahre ist es her, dass bei einem gewaltigen Erdrutsch drei Menschen starben, 40 ihr Obdach verloren. Wo einst ihre Häuser standen, sind heute riesige Wälle aufgeschüttet.

Seit Dienstag ist klar: Der Tod der drei Nachterstedter wird juristisch nicht aufgearbeitet werden. In einer E-Mail ohne Betreffzeile versendete die Staatsanwaltschaft Magdeburg gestern Morgen die Mitteilung, dass das Verfahren wegen des Verdachts auf fahrlässige Tötung eingestellt worden sei. Es ist das erste Mal seit zwei Jahren, dass auch die von den Ermittlungen Betroffenen, der Bergbausanierer LMBV und das Landesamt für Geologie und Bergwesen, mal wieder etwas von der Staatsanwaltschaft hören. Es lasse sich keine einheitliche Ursache für das Unglück feststellen, es gebe keine hinreichend sicheren Anhaltspunkte für menschliches Versagen, teilen die Ermittler mit. Sie beziehen sich sich in ihrer Feststellung auf zwei Gutachten: eines im Auftrag der LMBV und eines im Auftrag des Landesamtes für Geologie und Bergwesen. Im Kern sind sich beide Gutachter einig: Dass hohe Wasserdrücke in ohnehin instabilen Böschungen diese zum Einsturz brachten und eine riesige Flanke des Südufers des Sees abrutschen ließen. Allerdings beharrt die LMBV darauf, dass die Rutschung durch ein „Initial“ ausgelöst wurde, ein „Micro-Beben“. Stichhaltige Beweise für die Theorie vom Mini-Erdbeben gibt es jedoch nicht.

Nur ein paar Gehminuten entfernt vom einstigen Katastrophenort sitzt Monika Fraust in ihrer Küche. Sie hat gehört, dass der Erdrutsch keine juristischen Konsequenzen haben wird. Überrascht ist sie nicht. „Das war mir klar“ sagt sie. Der 61-Jährigen ist anzumerken, dass ihr das Gespräch über das verheerende Unglück auch nach so langer Zeit nicht leicht fällt. „Im Alltag verdrängt man das“, sagt sie. Aber jedes Jahr am 18. Juli oder wann immer es Situationen wie jetzt gibt - „da kommt alles wieder hoch“. Die Gedanken an jenen Tag, die Zeit, in der sie nicht nachgedacht, sondern „nur funktioniert hat“. Ihr Haus stand in der Unglückssiedlung.

Was für Gefühle die Nachricht vom eingestellten Ermittlungsverfahren auslöst? Schwer zu sagen. Keine Wut, sagt Fraust. „Wir sind froh, dass wir mit dem Leben davongekommen sind.“ Andere sind gestorben. „Das tut immer noch weh.“ Und dennoch: „Es gab für mich nicht die Schuldfrage“, sagt Imke Wiesenberg. „Ich war schon davon ausgegangen, dass das keiner hätte vorhersehen können.“ Ihr damaliger Mann Thomas (50) gehörte zu den Todesopfern des Erdrutsches. „Für mich war entscheidend“, so Wiesenberg, „was die Gutachten aussagen. Ich weiß, was passiert ist, das hat mir geholfen.“

Heidrun Meyer ist gerade von der vierwöchentlichen See-Beratung mit Ordnungsamt, Polizei, Bergamt und Bergbausanierer zurückgekommen. Die Bürgermeisterin von Nachterstedt hält an dem Termin fest, seit fast sieben Jahren. Ein ritueller Akt, um sich gegenseitig zu versichern, dass mit der Katastrophe nicht auch die Hoffnungen auf eine touristische Wiedergeburt der Region im Concordiasee verschwanden. Meyer ist überrascht, vor allem aber auch zufrieden: „Es ist ein weiteres Kapitel im Buch dieser Katastrophe, das nun zugeschlagen werden kann.“ Meyer kann verstehen, dass Angehörige der Opfer die Schuldfrage hätten klären lassen wollen. Sie hätte es aber auch nicht richtig gefunden, wenn jetzt diejenigen juristisch belangt worden wären, die quasi in einem Moment einer 150-jährigen Bergbaugeschichte Verantwortung trugen. Meyer will vor allem eines: „Nach vorn schauen. Die ganze Region klammert sich an die Teilöffnung im kommenden Jahr.“ Das hat die LMBV versprochen.

Es ist eines von vielen Versprechen, das die Firma im Besitz des Bundesfinanzministeriums in den Jahren seit der Katastrophe abgegeben hat. Alle wurden bislang gebrochen, inklusive der Zusage, die drei Toten bergen zu wollen. Meyer wird sauer, wenn sie daran denkt, sie hat deshalb seit 2015 keine Bürgerversammlungen mehr gemacht. „Wir werden ja unglaubwürdig.“

Uwe Steinhuber ist Pressesprecher der LMBV, ein zurückhaltender Mann mit runder Brille. „Wir wollen die Einstellung des Verfahrens nicht kommentieren, aus Respekt vor den Angehörigen der Opfer.“ Intern dürfte die Freude indes groß über das Ende der Ermittlungen sein: Nachterstedt schwebte wie ein Damoklesschwert über der Firmenzentrale in Senftenberg. Es ging um die Expertise und den Ruf des größten Braunkohlesanierers in Ostdeutschland; und es ging und geht natürlich um jede Menge Geld. Allein 40 Millionen Euro wird die Sanierung in Nachterstedt von heute an bis 2021 kosten, zehn Millionen davon trägt das Land. Es sind noch jede Menge Arbeiten nötig; die LMBV will ab März eine vierte Rütteldruckmaschine einsetzen, um die Sanierungsarbeiten am Nachterstedter Ufer zu beschleunigen. Der LMBV sitzt nach vielen gebrochenen Versprechen ein immenser öffentlicher und politischer Druck im Nacken. Dem stehen die Fragen der Sicherheit entgegen. Steinhuber formuliert daher betont vorsichtig „Wir wollen die sicherheitsrelevanten Arbeiten im 1. Quartal 2017 beenden. Die Teilöffnung des Schadelebener Ufers könnte dann im Sommer 2017 in Aussicht stehen.“
Dort, in Schadeleben - und nicht nur dort - hoffen die Menschen inständig darauf, dass es endlich weitergeht mit dem noch immer gesperrten See. Am Restaurant „Arche Noah“ stehen nach wie vor Zäune vor dem Ufer. „Ich glaube erst, dass der See offen ist, wenn der Zaun da weg ist“, sagt Inhaberin Antje Görecke - ein Stück Skepsis schwingt noch mit. Vor allem bei schönem Wetter kommen Radfahrer und Spaziergänger zu ihr. Ein Vergleich zu früher ist das nicht. Da habe der Inhaber an guten Wochenenden bis zu 6.000 Euro Umsatz gemacht. „Jetzt bin ich schon bei 400 glücklich.“ Im Radio hinter ihr laufen gerade die Nachrichten zu Nachterstedt. Überrascht haben sie auch Görecke nicht. (mz)