Meinungsfreiheit Meinungsfreiheit: Streit zwischen Merseburger Forscher und Erfolgsautor Pirinçci
Merseburg/Bonn - Für den einen Mann ist es eine prinzipielle Frage. „Es gibt immer eine rote Linie“, sagt Heinz-Jürgen Voß, „und die war hier überschritten“. Der andere Mann, knapp 500 Kilometer weiter westlich, verweist auf seine Prinzipien. „Ich halte Leute, die solche Wissenschaftler einstellen, für kriminell“, sagt Akif Pirinçci, „und ich nehme mir das Recht, das auch zu sagen“.
Zwei Männer, zwei Meinungen und ein Streit im Internet, aus dem demnächst ein Gerichtstermin im wirklichen Leben werden wird. Dabei fing alles auch gar nicht harmlos an. Heinz-Jürgen Voß, seit Mai Professor für Angewandte Sexualwissenschaft an der Hochschule Merseburg, hatte sich im Sommer mit einer Fachkollegin solidarisiert, die von Pirinçci wegen ihrer Ansichten zu frühkindlicher Sexualerziehung hart angegriffen worden war. „Ich fand es danach zu still“, sagt der 34-Jährige, der aus Dresden stammt, zuletzt aber lange in Hannover lebte und arbeitete. Dass er selbst ins Fadenkreuz geraten könnte, habe er nicht gedacht. „Aber davon darf man keinesfalls abhängig machen, ob man sich zu Wort meldet.“
„Geisteskranker, durchgeknallter Schwuler mit Dachschaden“
Akif Pirinçci hat auch nicht lange überlegt. Der in Istanbul geborene Schriftsteller, zu Beginn seiner Karriere mit Katzenkrimis erfolgreich und zuletzt noch erfolgreicher mit seinem gesellschaftskritischen Bestseller „Deutschland von Sinnen“, widmete Voß sofort einen eigenen Eintrag auf seiner vielbesuchten Facebook-Seite. Der Sozialwissenschaftler und Biologe mit Spezialgebiet Geschlechtertheorie und Sexualisierte Gewalt sei ein „geisteskranker, durchgeknallter Schwuler mit Dachschaden“, pöbelte er. Dem vielfach ausgezeichneten Wissenschaftler Voß gehörten alle akademischen Titel aberkannt, denn seine Theorie, dass es mehr als zwei Geschlechter gebe, sei ein „Juwel der Doofheit“.
Pirinçci darf Beleidigungen nicht wiederholen
Für den Wahl-Merseburger die rote Linie. „Jeder Mensch kann seiner Meinung sein, er kann sie äußern, er muss mir auch nicht beipflichten“, sagt der schmale Wissenschaftler, der in seinem Büro in Merseburg im lässigen Pullover vor einem Bücherregal mit Fachliteratur von Freud bis zu queeren Comicstrips sitzt. Aber wenn es persönlich werde, wenn ein Streit die Ebene der Sachauseinandersetzung verlasse und nur noch darauf abziele, „einen Menschen persönlich anzugreifen, um ihn verächtlich zu machen“, dann dürfe man sich das nicht gefallen lassen. „Deshalb habe ich Strafanzeige erstattet und auf zivilrechtlichem Weg eine einstweilige Verfügung erwirkt.“ Danach darf Akif Pirinçci die vorgebrachten Beleidigungen bei Androhung einer Strafe von einer Viertelmillion Euro nicht wiederholen. Außerdem habe auch die Hochschule den streitbaren wie umstrittenen Bestsellerautoren parallel angezeigt. „Dass man sich so solidarisiert, das finde ich gut.“
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Für die Bonner Staatsanwaltschaft ein klarer Fall. Wegen Beleidigung erging ein Strafbefehl über 12 000 Euro gegen den 55-Jährigen. Pirinçci allerdings weigert sich zu zahlen. „Das ist ein Witz“, schimpft er und beruft sich auf sein Recht, die seiner Ansicht nach von Experten wie Voß „aus ausgedachten Theorien zusammengebastelte Genderwissenschaft als Spinnerei bezeichnen zu dürfen“. Nach Ansicht des für seine drastische Sprache bekannten Gesellschaftskritikers von eigenen Gnaden handelt es sich bei der Genderforschung um „so etwas ähnliches wie Alchemie - also großen Blödsinn“. Heinz-Jürgen Voß etwa vertrete die Ansicht, dass es nicht zwei, sondern unzählig viele Geschlechter gebe. Pirinçci hält das für Quatsch: „Dummlaberei ohne wissenschaftliche Beweise“, poltert er. Hochschulverantwortliche, die Menschen anstellten, die solche Theorien verträten, seien für ihn „kriminell“: „Das kostet den Steuerzahler hunderte Millionen und nützt niemandem.“
Pöbeln auf persönlicher Ebene
Was Heinz-Jürgen Voß naturgemäß anders sieht. Für den Mann, der in seiner Freizeit Vorträge über sexuelle Vielfalt und ihre Bedrohung durch die grassierende Hasskultur hält, ist sein Widersacher vom Rhein ein typischer Vertreter einer „problematischen rechtspopulistischen Strömung in der Gesellschaft“, die gerade im Internet sichtbar wird. Bei Netzwerken wie Facebook werde auf persönlicher Ebene gepöbelt, in Kommentarspalten von Online-Medien wird im Schutz der Anonymität jede Zurückhaltung fallengelassen. Die Verrohung der Diskussionskultur, die er am eigenen Leibe erfahren habe, könne mit verbalen Gewaltattacken handfester Gewalt den Boden bereiten. „Deshalb müssen wir darüber reden, wie wir in der Gesellschaft miteinander sprechen wollen.“
Unsichtbare Barriere
Voß hat Pirinçci nie getroffen, Pirinçci hat kein Wort mit Voß gewechselt. Beide Männer stehen auf ihren Seiten einer unsichtbaren Barrikade, bewaffnet mit ihren beiden Wahrheiten: Voß nennt Pirinçci in einem Atemzug mit Thilo Sarrazin. Der gebürtige Türke Pirinçci hingegen produziert einen Schwall an Unzitierbarem, wenn er über das Fachgebiet des Gegenübers spricht.
Dass zuletzt gerade über Geschlechterforschern eine Lawine aus Hass niederging, hält Heinz-Jürgen Voß nicht für einen Zufall. Die Auseinandersetzung über Geschlecht und Sexualität sei in der gesellschaftlichen Debatte zentral, glaubt er. „Diese Themen werden als Vehikel genutzt, um rechtes Gedankengut zu transportieren und mehrheitstauglich zu machen.“
Rechtsextreme verknüpften mit Vorwürfen, wie sie Pirinçci artikuliere, die Hoffnung, bei einer konservativen, bürgerlichen Mitte Anschluss finden zu können. Neben eher traditionell erzogenen älteren Menschen, die sich nicht von den Positionen ihrer Kindheit und Jugend trennen wollten oder könnten, gebe es aber auch eine gesellschaftliche Gruppe, die den Eindruck habe, in vielen Diskussionen abgehängt zu sein. „Die möchte es auch mal jemandem zeigen und entsprechend laut agiert sie auch.“
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Mit dem Ergebnis, dass eine Diskussionskultur entsteht, in der „niemand mehr gehört wird, wenn er nicht schreit“. Das sagt Heinz-Jürgen Voß, das könnte aber auch Akif Pirinçci gesagt haben, denn der entschuldigt seine drastische Wortwahl damit, dass seine inhaltliche Kritik nur so Beachtung finde. „Wenn ich sage, diese Leute lehren Harry Potter als ernsthafte Wissenschaft, stört das keinen.“ Als Beschimpfung sieht Akif Pirinçci seine Äußerungen nicht, vielmehr seien sie nötige Zuspitzungen. „Es gibt in Deutschland, Österreich und der Schweiz 223 Professoren, die sich mit Genderwissenschaften befassen, aber nur 190 Professoren, die Pharmazie lehren“, sagt er. „Pharmazie kann Leben retten, was kann Gender?“
Kein moralischer Zeigefinger
Die Welt ein Stück besser und gerechter machen, zumindest glaubt das Heinz-Jürgen Voß. Er sehe seine Aufgabe nicht darin, die Gesellschaft umzuerziehen. „Wir verordnen nichts von oben, wir arbeiten mit den Einrichtungen an Konzepten gegen Grenzverletzungen und sexualisierte Gewalt.“ Dabei geht es um unterdrückte Traumata, um Benachteiligung und Fragen von Missbrauch etwa von Kindern. Alle Erfahrungen sagten, dass ein Programm nur richtig angenommen werde, wenn es mit den Mitarbeitern entstehe. „Es hilft gar nichts, wenn ich mit einem moralischen Zeigefinger komme.“
Promo für das nächste Werk?
Den Akif Pirinçci trotzdem überall sieht. Die „Geschwätzwissenschaften“ seien unterwegs, „lecker Steuermittel“ abzugreifen, er werde nur mit Klagen überzogen, weil er das anprangere. „Meine Existenz soll zerstört werden, weil die Angst haben, dass jemand sagt: Stimmt eigentlich, den Quatsch braucht kein Mensch.“ Pirinçci markiert den Kämpfer. Er weiß, der Streit ist gut für das nächste Buch. Er sei zum Glück von niemandem abhängig und könne deshalb nicht eingeschüchtert werden, sagt er. „Bei dem Schauprozess werde ich eine lange Rede halten“, kündigt er schon mal an, „und in meinem nächsten Buch bekommt Herr Voß ein eigenes Kapitel.“ (mz)