Liselotte Welskopf-Henrich Liselotte Welskopf-Henrich: Das Doppelleben der Mutter von Tokei-ihto
Halle/MZ. - Bevor die Fahrbücherei damals - in den frühen achtziger Jahren - vom Hof der Kaufhalle rollte, marschierte die Bibliothekarin immer erst in den hinteren Teil des mit Regalen bestückten Anhängers. Dorthin, wo eigentlich jene Schätze stehen sollten, die aber entweder immer ausgeliehen oder gerade wieder geklaut worden waren. Während die arme Literatur-Verwalterin jedes Mal lautstark "diese asoziale Diebesbande" verdammen musste, standen die gescholtenen Knirpse mit roten Ohren hinter irgendwelchen Hecken. Unter den Anoraks die Bücher von Jules Verne, Stanislaw Lem, James Fenimore Cooper oder eben - Liselotte Welskopf-Henrich.
Was die lesehungrigen Langfinger aus dem Weißenfelser Neubauviertel damals ebenso wenig ahnten wie die Millionen ihrer Altersgenossen, die bereits auf legale Weise an die begehrten Werke der "Frau mit dem komischen Namen" gelangt waren: Die geistige Mutter von Tokei-ihto, Tashina, Hawandshita und all den anderen Helden der Indianerbuch-Reihe "Die Söhne der großen Bärin" hatte bis zu ihrem Tod im Jahr 1979 ein Doppelleben geführt.
Der anderen, bis heute weitgehend unbekannten Seite der erfolgreichen deutschen Kinder- und Jugendbuchautorin widmet sich in dieser Woche eine dreitägige Konferenz des Instituts für Klassische Altertumswissenschaften der Martin-Luther-Universität. Denn als Nestorin jenes Forschungszweiges hat es Elisabeth Charlotte Welskopf - so ihr bürgerlicher Name - einst weit über die Grenzen der DDR hinaus zu ähnlichen Meriten gebracht wie als Schriftstellerin. Das Ansehen der seit 1949 an der Ost-Berliner Humboldt-Universität lehrenden und 1959 als Professorin für Alte Griechische Geschichte habilitierten Wissenschaftlerin war enorm. So enorm, dass die seit Kriegsende mit einem jüdischen Kommunisten verheiratete Münchnerin Mitte der sechziger Jahre als erste Frau zum ordentlichen Mitglied der Akademie der Wissenschaften berufen wurde.
Dass die Organisatoren der hochkarätig besetzten Konferenz zum Thema "Alte Geschichte in der DDR" gar nicht daran denken, Elisabeth Charlotte Welskopf und Liselotte Welskopf-Henrich als zwei getrennte Figuren zu betrachten, zeigte sich bereits am Eröffnungsabend im Saal drei des halleschen Multiplex-Kinos Cinemaxx. Dorthin hatte es neben zweien der mittlerweile erwachsenen Weißenfelser Bücherdiebe und hunderten weiteren Indianerfreunden auch einige Altertumswissenschaftler verschlagen. Auf dem Programm stand die Aufführung eines längst zum Kult-Klassiker wiederholten Defa-Streifens. Der Titel, natürlich: "Die Söhne der großen Bärin".
Das Werk - vor 36 Jahren Startschuss zum Indianerfilm-Boom in der DDR und Karriere-Treibsatz für einen jugoslawischen Sportlehrer namens Gojko Mitic - mag bis heute Generationen von Kinogängern begeistert haben. Allein, die Autorin der Roman-Vorlage zeigte sich seinerzeit wenig angetan von der Umsetzung ihres millionenfach gedruckten Bestsellers. "Hier waren ihr die Mokassins nicht authentisch genug, dort regte sie ein Anlegesteg auf, den die Dakotas damals gar nicht kannten", erinnerte sich Isolde Stark nach der Vorführung an die Bauchschmerzen ihrer einstigen Doktor-Mutter. Die heute als Privatdozentin an der halleschen Universität lehrende Altertumsforscherin hatte auch "den echten Sohn der großen Bärin", Rudolf Welskopf, mit in den Kinosaal gebracht. Der 54-Jährige erinnerte sich ebenfalls mit einer Mischung aus Schrecken und Vergnügen an die Zornesausbrüche seiner Mutter. Aber letztlich konnte er dem Germanisten Thomas Kramer nur zustimmen: "Wenn Tokei-ihto im Buch grübelt, ist das ein innerer Monolog über zwei Seiten; wenn Gojko Mitic im Film grübelt, zieht er nur kurz den Bauch ein."