"Wie in einem Kriegsgebiet" Nazi-Attacke in Leipzig-Connewitz: Prozess hat begonnen

Es gibt Dinge, die vergisst man sein ganzes Leben lang nicht. Die Geburt des eigenen Kindes zum Beispiel. Der langersehnte Aufstieg mit dem geliebten Fußballverein.
Oder das Gefühl der absoluten Machtlosigkeit, wenn du zuschaust, wie jemand dein Auto zertrümmert und du nichts tun kannst.
Als Sieghard Schulze (Name geändert) am Abend des 11. Januar 2016 aus dem Fenster seines Arbeitszimmers in Leipzig-Connewitz schaut, erblickt er einen schwarzgekleideten Mann, der gerade dabei ist, seinen Skoda Octavia zu zerlegen.
In jeder Hand eine Stange oder Holzlatte, genau ist das aus der zweiten Etage nicht auszumachen, umrundet der Mann das Auto und schlägt zu - Frontscheibe, Seitenscheiben, Heckscheiben, Seitenscheiben. Ein Schlag nach dem anderen, mit voller Wucht.
Neben ihm strömen Massen in schwarz durch die Wolfgang-Heinze-Straße im Süden der Stadt. Sie schlagen Schaufensterscheiben ein, demolieren weitere Autos, skandieren „Ho-, Ho- , Hooligans“. Es splittert und kracht, Böller zischen durch die Luft. „Es sah aus wie in einem Kriegsgebiet“, sagt ein Polizeibeamter, der damals im Einsatz war. Schulze sagt, er habe eigentlich runter auf die Straße gehen wollen, um sein Auto zu schützen. „Aber ich habe Angst um meine Gesundheit gehabt.“
Der Polizist und der Anwohner - sie sagen am Donnerstag als Zeugen vor dem Leipziger Amtsgericht aus. Zweite Etage, Saal 200: Hier beginnt Richter Marcus Pirk in einem ersten von mehreren Prozessen mit der groß angelegten juristischen Aufarbeitung der Connewitzer Neonazi-Krawalle. Die rechtsextremen Ausschreitungen zählen zu den heftigsten, die Mitteldeutschland in den vergangenen Jahren erlebt hat.
Nazi-Ausschreitungen in Leipzig-Connewitz: 200 Angreifer ziehen durch den linken Stadtteil
An jenem 11. Januar ziehen abends mehr als 200 Hooligans, Neonazis und Kampfsportler marodierend durch das linksalternative Stadtviertel. Sie zerlegen mit der Wolfgang-Heinze-Straße einen mehrere hundert Meter langen kompletten Straßenzug. 113.000 Euro Sachschaden, 25 beschädigte Geschäfte, Wohnungen und Bars. Staatsanwältin Sandra Daute zählt sie in ihrer Anklageschrift alle minutenlang akribisch auf, samt Schadenshöhe.
Der Schlägertrupp will den Umstand nutzen, dass die Polizei massiv Kräfte in der Innenstadt konzentriert hat. Dort marschiert an diesem Abend das fremdenfeindliche Legida-Bündnis auf, begleitet von Gegendemos.
In Connewitz, so kalkulieren die Randalierer, haben sie freie Bahn. Die Polizei kann die Ausschreitungen nicht komplett verhindern, aber schnell stoppen - einer Hundertschaft gelingt es, 215 Verdächtige in einer Seitenstraße in Connewitz einzukesseln. Die meisten kommen aus Sachsen, sieben aus Sachsen-Anhalt.
Auch den Dönerladen von Hossan Gahwish haben sie damals verwüstet, der Sachschaden allein bei ihm: 20.000 Euro. Zweieinhalb Jahre später läuft das Geschäft längst wieder, Gahwish hat vor kurzem einen weiteren Laden in der benachbarten Südvorstadt eröffnet. Dennoch lässt der 11. Januar 2016 ihn nicht los. Darüber reden mag er nicht mehr. Nur so viel: „Am liebsten würde ich das alles vergessen.“
Das ist schon deswegen nicht so einfach, weil die Ermittlungen sich lange hinzogen. Ein Jahr nach den Krawallen war noch nicht ein einziges der mehr als 200 Verfahren abgeschlossen. Um die ersten Anklagen fertig zu stellen, brauchte die Staatsanwaltschaft Leipzig zwei Jahre. Die Behörde erklärte das so: Jedem einzelnen der Verdächtigen habe eine Beteiligung an den Ausschreitungen nachgewiesen werden müssen. Dass das aufwendig ist, räumten Anfang 2017 selbst Kritiker wie Sachsens damaliger Grünen-Landeschef Jürgen Kasek ein. Dennoch, so Kasek damals, entstehe der Eindruch, „dass es am nötigen Verfolgungseifer fehlt“.
Prozess nach Nazi-Krawallen in Leipzig-Connewitz: Verfahren gebündelt
Die Staatsanwaltschaft hat die Verfahren gebündelt. Je zwei Tatverdächtige sind gemeinsam angeklagt. Allein vor dem Leipziger Amtsgericht stehen in den nächsten Monaten mehr als 80 Prozesse an, weitere vor anderen sächsischen Gerichten.
Zum Auftakt müssen sich am Donnerstag zunächst zwei Männer aus Leipzig, beide 26 Jahre alt, vor Gericht verantworten. Der eine in Jeans und Kapuzenjacke, der andere in heller Sommerhose und modischem kariertem Kurzarmhemd: Sie wirken harmlos und adrett, wie sie da auf der Anklagebank sitzen.
Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen wie auch den anderen Angeklagten schweren Landfriedensbruch vor. Sie hätten sich „in Kenntnis des Vorhabens“ der Gruppe angeschlossen, sagt Staatsanwältin Sandra Daute, und damit auch die Gewalttaten anderer befürwortet.
Daute spielt damit darauf an, dass der Überfall offenbar von langer Hand geplant war. Sie sagt über die Angeklagten: „Es kam ihnen darauf an, möglichst große Schäden anzurichten.“ Die beiden Männer verfolgen den Vortrag der Staatsanwältin regungslos. Dann lassen sie ihre Verteidiger erklären, dass sie sich nicht äußern wollen.
Im Saal 200 des Amtsgerichts wird schnell deutlich: Die juristische Aufarbeitung der Krawalle wird langwierig. Allein am ersten Prozesstag stehen 15 Zeugen auf der Liste, Anwohner und Polizeibeamte. Nicht alle können sich nach zweieinhalb Jahren so gut erinnern wie Sieghard Schulze. Die Polizisten schildern detailliert, wie sie den Einsatz erlebt haben - von wo aus sie an den Tatort gefahren sind, wo sie standen, was sie sahen und was nicht, wie die Einkesselung der mutmaßlichen Täter gelang.
Nazis randalieren in Leipzig Connewitz: Bewaffnet mit Latten und Äxten
Dabei schält sich folgendes Bild heraus: Die Angreifer waren massiv bewaffnet. Und sie ließen sich der Neonazi- und Hooligan-Szene zuordnen. Mehrere Beamte berichten unabhängig voneinander, was die Einsatzkräfte damals auf der Straße sicherstellten, auf der der Mob eingekesselt wurde: Mit Nägeln gespickte Zaunlatten. Totschläger. Schlaghandschuhe. Äxte. Kabel-Ummantelungen, die, so ein Polizist, „massive Verletzungen verursachen können“.
Auch unter den Fundstücken: Sturmhauben, rot-weiß und blau-gelb gestreift. Für die Beamten besteht kein Zweifel: Sie haben es mit Hooligans aus dem Umfeld des HFC und von Lok Leipzig zu tun. Vereinzelt schauen Polizisten auch alten Bekannten ins Gesicht: Leute, die sie bereits auf anderen rechtsextremen Demos beobachtet haben oder in der Fan-Szene von Dynamo Dresden. „Ich bin seit fast 20 Jahren bei der Polizei“, sagt ein Bereitschaftspolizist aus Leipzig, „ich kenne einige Gesichter und weiß, wo ich die zuordnen muss.“
Der Prozess wird am kommenden Donnerstag fortgesetzt.