Menschen mit Behinderung Menschen mit Behinderung : Party-Spaß mit Hindernissen

Leipzig - Kerry Cherki stülpt sich seine roten Fingerhandschuhe über, bevor er mit seinem Rollstuhl eine Schwelle im Türrahmen überwindet. „Halt mal mein Bier“, bittet der 47-Jährige einen der Gäste. Denn für den kleinen Kraftakt braucht er beide Hände.
Cherki rollt sich durch die ausgelassene Menschengruppe. Es ist kalt und regnerisch an diesem Abend. Dennoch sammeln sich Dutzende Menschen auf dem weitläufigen Gelände des „Conne Island“, einem bekannten Treffpunkt der alternativen Szene im Süden Leipzigs, spielen dort Tischtennis oder fahren Skateboard.
Auf seinem Weg nach drinnen achtet Cherki darauf, niemanden anzufahren. Nur einzelne Stellen des Geländes sind mit alten Laternen beleuchtet. Doch wie automatisch weichen alle aus, als sie den Mann in seinem schwarzen Rollstuhl sehen. „Das erlebe ich oft“, sagt er. „Meistens sind alle sofort super aufmerksam. Wenn ich zum Beispiel in ein Kaufhaus fahre, vergehen keine zwei Minuten, bis mir Hilfe angeboten wird.“
Gerade im „Conne Island“ soll niemand ausgegrenzt werden, auch körperlich und geistig eingeschränkte Menschen nicht, sagt die ehemalige Geschäftsführerin Tanja Rußack. Die 33-Jährige spricht für den Treff und hat sich in den vergangenen Jahren dafür eingesetzt, dass das alternative Jugend-Kulturzentrum als sozialer Treffpunkt für noch mehr Menschen zugänglich wird. Ein Besuch soll zeigen, wie „gleich“ man als eingeschränkter Mensch im Nachtleben sein kann.
Querschnittslähmung nach Motorradunfall: Hoffnung auf den „Lottogewinn“
Für Menschen wie Kerry Cherki ist diese Einstellung unbezahlbar. Knapp 20 Jahre ist es inzwischen her, dass sich das Leben des früheren Turners auf einen Schlag änderte. Nach einem Motorradunfall übermittelte ihm der Arzt im Krankenhaus die Diagnose: Querschnittlähmung bis zur Hüfte. Mehr noch: Eine vollständige Lähmung hüftaufwärts sei nicht ausgeschlossen.
„Gott sei Dank war ich mit 29 mental so stark, um mich nicht aufzugeben“, sagt Cherki im Rückblick. Nach jahrelangen Rehabilitationsmaßnahmen hofft der Sohn eines US-Soldaten heute weiter, dass die Nervensprossen die Verbindung zueinander finden werden - die Suche danach geschehe ein Leben lang. „Das ist aber mit einem Lottogewinn vergleichbar“, sagt der Betriebswirt, der aus Rheinland-Pfalz stammt und heute mit seiner Frau und den beiden Kindern in Leipzig wohnt, ganz realistisch.
Deshalb findet er sich damit ab und versucht das beste aus der schwierigen Situation zu machen. Da hilft ihm, dass das Café im Vorderhaus des „Conne Island“ über eine Rampe gut zu erreichen ist. Durch die gelb gestrichenen Räume führt ein breiter Gang in mehrere Aufenthaltsräume. Im Vorraum gibt es drei Toiletten.
Neben je einem WC für Männer und Frauen findet man hier auch ein erst vor wenigen Jahren saniertes separates Behinderten-WC. Breite Eingangstüren, die Höhe des Sitzes an die übliche Rollstuhlhöhe von 48 Zentimetern angepasst, links und rechts gut erreichbare Haltegriffe. Freiraum in der Kabine, ein unterfahrbarer Waschtisch und auch die ebenerdige Dusche entsprechen den vorgeschriebenen DIN-Normen, erklärt Tanja Rußack.
„Barrierefreiheit beginnt im Kopf“
Einen Schwachpunkt benennt Cherki allerdings: die Notklingel. Von einigen Benutzern werde sie nach oben gehängt, weil sie meist im Weg ist. „Blöd, denn im Notfall kommt natürlich niemand ran.“ Ein gut ausgerüstetes Behinderten-WC sieht Kerry Cherki als das A und O im Nachtleben.
„Barrierefreiheit beginnt im Kopf“, betont der 47-Jährige. „Wenn ich weiß, ich kann irgendwo die Toilette nicht benutzen und deshalb kein Bier trinken, habe ich schon vorher ein Problem.“
Einige Besucher stürmen an dem Mann im Rollstuhl vorbei, schauen immer wieder erschrocken nach unten, weil sie ihn fast angerempelt hätten. Am Tresen angekommen, erkennt Cherki das nächste Hindernis: „Die Bar ist ein großes Problem für Rollstuhlfahrer, denn sie ist hoch“, sagt Kerry Cherki. Ein Getränk wie alle anderen Gäste abholen, das ist für den Rollstuhlfahrer also unmöglich.
Der Betriebswirt kennt sich aus. Acht Jahre lang war er Geschäftsführer eines Nachtclubs - selbst bereits im Rollstuhl, aber ohne Barrierefreiheit. „Als Rollstuhlfahrer würde ich nicht ohne weiteres in einen Club wie meinen kommen“, gibt er zu. Alleine der rollstuhlgerechte Umbau der Treppen hätte ihn 40.000 Euro gekostet. Die sehr strengen Denkmalschutzauflagen seien ein weiteres Hindernis gewesen, das er aus finanziellen Gründen nicht hätte überwinden können.
Zum großen Saal, wo regelmäßig Konzerte stattfinden, gelangen Rollstuhlfahrer im „Conne Island“ über eine nachgerüstete Rampe. Bis zu 500 Besucher passen hier herein.
2014: Konzeptpreis für die erfolgreiche Umsetzung von Barrierefreiheit an Conne Island
Um Konzerte oder Veranstaltungen verfolgen zu können, hätten Rollstuhlfahrer hier zwei Möglichkeiten, erzählt Tanja Rußack: Entweder sie stehen am Bühnenrand oder etwas abseits auf einem Podest. Das selbe Konzerterlebnis wie andere Besucher haben Rollstuhlfahrer aber nicht. Durch die Abtrennung sind sie isoliert oder vom Platz her eingeschränkt. „Wir wissen, dass wir beim Thema Barrierefreiheit noch viel tun müssen“, sagt die 33-Jährige.
Gleichwohl seien 2011 mit einer Renovierung auch größere Hürden für körperlich eingeschränkte Gäste beseitigt worden. Das könne man aber immer noch verbessern, weil eine Einschränkung viele Facetten habe.
Das bestätigt auch Kerry Cherki: „Die Leute denken bei dem Wort ,Barrierefreiheit’ immer zuerst an Rollstuhlfahrer“, so der 47-Jährige. „Da muss man vielschichtiger denken.“ Auch Tanja Rußack weiß aus dem Geschäftsalltag: „Das geht schon los bei gedruckten Flyern für unsere Veranstaltungen“, sagt die 33-Jährige. „Wie erreichen wir etwa stark Sehgeschädigte oder sogar Blinde?“
Für Sondergestaltungen fehlten häufig die finanziellen Mittel. 80.000 Euro erhält das „Conne Island“ jährlich für Projekte von der Stadt Leipzig - wie diese eingesetzt werden, bleibt den Betreibern überlassen. Dabei wolle man Beeinträchtigte viel stärker auch inhaltlich einbinden: Workshops, barrierefreie Internetseite, Schulungen der Mitarbeiter.
Das bisherige Engagement der Betreiber und das Ziel, Minderheiten integrieren zu wollen, wurde aber bereits gewürdigt: 2014 verlieh der sächsische Landesverband Soziokultur dem „Conne Island“ den „Konzeptpreis für die erfolgreiche Umsetzung von Barrierefreiheit“. Die äußert sich an dem Veranstaltungsort auch in Angeboten wie einem „Wheelchair Skating Day“ - einem im Sommer stattfindenden Workshop für Rollstuhlfahrer, die mit einem amerikanischen Profi lernen, wie Rollstuhlfahren zu einer angesagten Sportart werden kann.
Doch es gibt noch viel zu tun. „In Leipzig ist Barrierefreiheit im Nachtleben noch nicht angekommen“, betont Rose Jokic vom Antidiskriminierungsbüro Sachsen. Nur wenige Einrichtungen könne man Rollstuhlfahrern empfehlen. „Ich schätze 99 Prozent sind nicht barrierefrei“, sagt die Projektmitarbeiterin. Denn auch Beleuchtung und Lautstärke müssten angepasst werden. Positiv zu erwähnen seien in Leipzig neben dem „Conne Island“ das „UT Connewitz“, das älteste erhaltene Lichtspieltheater der Stadt, in dem auch Musikveranstaltungen stattfinden, sowie das Kulturzentrum „Werk II“. Zudem gibt es in Leipzig-Lindenau in einem Nachbarschaftszentrum regelmäßig eine „Rollstuhldisko“.
Zunehmende Anfeindungen
Dass eingeschränkten Menschen nicht nur Aufmerksamkeit und Mitleid zuteil wird, weiß Kerry Cherki. Er selbst erfahre viel Hilfe, von anderen Rollstuhlfahrern höre er oft das Gegenteil. Die sprechen sogar von zunehmenden Anfeindungen. Für Rollstuhlfahrer gebe es daher sogar schon Selbstverteidigungskurse. Im Verein „Leipzig Querschnitt e.V.“ engagiert sich Cherki heute dafür, das Thema und seine Facetten bekannter zu machen.
Als Betroffener ist er dennoch froh, in einer Großstadt wie Leipzig zu leben. „Es ist eine offene Stadt, in der man viel schneller Kontakte herstellen kann“, sagt er. Wie er nach dem Club-Besuch nach Hause kommt, darüber macht sich Kerry Cherki meist keine Gedanken - genau wie jetzt, als er über einen Schotterweg zur Haltestelle rollt. „Die meisten Straßenbahnen in Leipzig sind barrierefrei“, sagt er. „Nur die alten Tatra-Bahnen können problematisch sein, allerdings auch für Fußgänger.“ Für ihn ist am Ende des Clubabends klar: „Behindert ist man nicht, behindert wird man.“ (mz)