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Kirche St. Nicolai in Coswig Kirche St. Nicolai in Coswig: Dachreparatur ohne Schwindel

Von Ilka Hillger 18.09.2019, 09:47
In rund 40 Metern Höhe muss Roy Treuding die kaputten Schindeln ersetzen.
In rund 40 Metern Höhe muss Roy Treuding die kaputten Schindeln ersetzen. Thomas Klitzsch

Coswig - An der Coswiger Nicolaikirche geben sich am Dienstag Handwerker die Klinke in die Hand. Die einen tragen Küchenmöbel ins Pfarrhaus, denn in einer Woche steht der Einzug von Pfarrerin Swantje Adam an. Vor der Kirche tauschen zwei Mitarbeiter von Elektro-Knichal mit dem Hubsteiger die Außenbeleuchtung aus.

Der ganz besondere Arbeitsplatz an diesem Tag gehört jedoch Maik Seebert und Roy Treuding. Während die Kollegen anderer Gewerke schon schaffen, nehmen sie noch das Frühstück auf der Treppe vom Pfarrhaus ein und legen den Kopf in den Nacken. Ein Blick hinauf zum Arbeitsort: die Kirchturmspitze. „Das ist kein Problem“, sagt einer der Männer.

Die rund 40 Meter, in deren Höhe man zwischen den grauen Schieferschindeln die Dachluke erkennt, sind für die beiden offensichtlich keine große Herausforderung. Sie kamen schon höher hinaus als Industriekletterer. Am Dienstag sind Seebert und Treuding aus Berlin angereist.

Gerufen hat sie Lutz-Dietrich Bethge, seit 40 Jahren Mitglied des Gemeindekirchenrates. Weil er sich im Gremium vor allem um die Bauangelegenheiten kümmert, fehlt er natürlich nicht bei diesem ungewöhnlichen Handwerkereinsatz am Kirchturm.

„Vor etwa zwei Jahren gingen uns da oben ein paar Schindeln verloren“, erzählt Bethge. Er zeigt auf die Stelle rechts unterhalb der Turmluke. Nun endlich soll die kleine Fehlstelle repariert werden, und das ist kein Job für einen normalen Dachdecker. Der Gemeindekirchenrat wurde bei den Industriekletterern fündig und nahm das Angebot des Berliner Kletterkollektivs an, in dem Maik Seebert und Roy Treuding arbeiten.

Gut vergurtet

Gegen zehn Uhr packen die Berliner ihre Ausrüstung aus dem Auto, viele Seile, Gurte, eine Menge Karabinerhaken und dazu noch Werkzeugtaschen mit Akkuschrauber, Hammer und all dem, was auch ein Dachdecker braucht. Durch die Seitentür geht es in den Turm; bis zur früheren Türmerwohnung kommt auch Lutz-Dietrich Bethge mit. Bis dahin sind es 138 Stufen.

Ein kurzer Blick noch von der Balustrade, dann geht es für Seebert und Treuding allein weiter auf noch einmal 32 Leiterstufen bis zur Luke. Die klappt bald auf, Seile fallen heraus und es folgen die Beine von Roy Treuding. Gut gesichert und vergurtet sitzt er auf einem Brett und lässt sich langsam bis zu der Stelle herab, wo die Reparatur stattfinden wird.

Bethge und der Dachdecker, den die Coswiger Gemeinde bei regulären Einsätzen ruft, haben gut vorgearbeitet. Die Ersatzschindeln liegen zugeschnitten und vorgebohrt im Kirchturm bereit. „Hoffentlich reichen sie“, meint der Gemeindekirchenrat. Sie tun es, sogar eine noch etwas weiter seitlich gelegene Fehlstelle können die Männer ausbessern. Nach zwei Stunden verlassen sie ihren luftigen Arbeitsplatz für diesen Tag.

Dabei sind Kirchen für die Mitarbeiter des Kletterkollektivs keine Besonderheit. „In Berlin sind wir da häufig oben. Das Ziel ist irgendwann mal der Vatikan“, sagt Maik Seebert. Das Kletterkollektiv sei ein Zusammenschluss von selbstständigen Industriekletterern. „Der harte Kern sind fünf Leute“, erzählt er. Windräder, Bäume, Kirchtürme, Hochhäuser - kurz alles, wo der Hubsteiger zu kurz oder ein Gerüst zu teuer und aufwändig wird, wird für ihn und die Kollegen zum Arbeitsort.

Treuding hatte seinen persönlichen Höhenrekord bei 140 Metern an einem Windrad, Seebert bringt es auf 365 Meter am Berliner Fernsehturm. „Ab 100 Metern kommt einem aber alles nur noch hoch vor“, meint er. Inzwischen sind die Industriekletterer weltweit unterwegs und nehmen die Jobs an, bei denen normale Handwerker der Schwindel packt.

Beide sehen sich denn auch weniger als Kletterer, sondern mehr als Handwerker. Sie müssen eben nur mit den besonderen Bedingungen ihrer Arbeitsorte leben. Maik Seebert ist Zimmermann, andere im Kollektiv sind Dachdecker oder Stahlbauer. Und wenn es an ganz ausgefeilte Tätigkeiten in großer Höhe geht, dann nehmen die Kletterer auch mal Anweisungen über Funk entgegen.

Industriekletterer wie die beiden Männer aus Berlin gibt es in Deutschland übrigens noch nicht allzu lange. Maik Seebert erzählt, dass diese Tätigkeit erst ab 1997 offiziell erlaubt ist. Vorher hätten nur zwei frühere DDR-Firmen Bestandschutz genossen. „Man hat sich ansonsten die Leute aus Frankreich geholt“, sagt er. Die Hauptstadt nennt er übrigens die Hochburg der Industriekletterer, dort seien die meisten Firmen ansässig.

Wohl auch, weil die Reichstagsverhüllung von 1995 gewissermaßen eine Initialzündung war. Die Künstler Christo und Jeanne-Claude etablierten die Industriekletterei in Europa weiter, indem sie eine Sondergenehmigung für den Einsatz von seilunterstützten Arbeitsverfahren erhielten.

„Das war der Startschuss, da ging es für die meisten von uns los“, erinnert der Kletterer, der selbst Lust auf solch einen Job bekam, als er am Potsdamer Platz die Kletterer aus Frankreich beobachtete.

Gute schnelle Arbeit

Auch privat gehen die beiden übrigens klettern, dann aber in der Halle, denn „die Berge sind zu weit weg“. Hier wie da steht Sicherheit an erster Stelle. In Höhenrettung sei man ebenso erfahren wie in Materialprüfung. Am Dienstag in Coswig sind die Bedingungen ideal. Leichter Wind, wolkiger Himmel, keine Hitze – so funktioniert die Höhenarbeit an der Kirchturmspitze ausgezeichnet.

Das findet am Ende auch Lutz-Dietrich Bethge. „Für meine Begriffe ist das eine gute und schnelle Arbeit“, bilanziert er, als die Industriekletterer schon wieder auf dem Heimweg sind. Seine Internetrecherche nach Industriekletterern hat sich also gelohnt. Das Schieferdach von St. Nicolai ist wieder komplett.

(mz)

Am Turm der Nicolaikirche in Coswig haben Industriekletterer aus Berlin  am Dienstagvormittag das Dach repariert.  Das Schieferdach ist nun wieder komplett.
Am Turm der Nicolaikirche in Coswig haben Industriekletterer aus Berlin  am Dienstagvormittag das Dach repariert.  Das Schieferdach ist nun wieder komplett.
Klitzsch