Streifenfahrt in der Nacht Unfälle und Kriminalität im Landkreis Harz: MZ begleitet Polizeibeamte auf Streifenfahrt durch Nacht

Halberstadt - Dirk Sparwasser schaltet das Blaulicht an und gibt Gas. 80, 90, 100. Es ist weit nach Mitternacht, kaum ein Auto unterwegs. Hier, in Halberstadt, fährt der 45-jährige Polizeihauptkommissar seit 2009 Streife, schiebt am liebsten Nachtschichten, denn „das Auftragspensum ist ein anderes, man agiert freier“. Und noch etwas unterscheidet die Nacht vom Tag: „Das Gewaltpotenzial ist höher.“ Eine Herausforderung.
Dirk Sparwasser ist seit zehn Jahren im Streifendienst und kennt die Region und die Schleichwege
Sparwasser kennt die Stadt, ihre Schleichwege – und seine Pappenheimer. Über Funk kam gerade rein, dass es Ärger gibt in der Zentralen Anlaufstelle für Flüchtlinge. Mal wieder. „Wir sind fast täglich hier“, sagt Sparwassers Kollegin, Sabrina Weise.
Erst neulich, erzählt die Polizeikommissarin, hätten drei Bewohner angedroht, aus dem Fenster zu springen. Polizei, Rettungsdienst, Feuerwehr – alle waren vor Ort. Auch diesmal sind die beiden nicht die Einzigen, die auf dem Weg in die Friedrich-List-Straße 1A sind. Man kann ja nie wissen. „Es gab schon Einsätze“, so Sparwasser, „da stand der ganze Platz vor dem Block voll aufgebrachter Leute.“ Deshalb fährt hin, wer nur kann.
Der Streifenwagen wird vorbereitet: Funkgeräte und Akkus, eine Maschinenpistole, Helme und Schutzwesten
Ein paar Stunden zuvor. Schichtbeginn im Polizeirevier Harz. Sparwasser und Weise nehmen sich Funkgeräte und Akkus, stecken die Dienstwaffen ins Holster und holen eine Maschinenpistole aus dem Waffenschrank, die, neben Helmen und Schutzweste, Drogentests, Verkehrshütchen und allerlei anderen Dingen, mit an Bord eines jeden Streifenwagens sind.
Die beiden sind heute nicht allein unterwegs. Frauke Harbrecht, 28 Jahre alt und Studentin an der Fachhochschule in Aschersleben, absolviert gerade ein Praktikum. Die Nachtschicht ist ihre vorerst letzte bei der Schutzpolizei.
Für einen Freitag sei es bisher ungewöhnlich ruhig, sagt Thomas Springer, aber „es gibt keinerlei Störungen. Im ganzen Landkreis nicht“. Als Leitender Einsatzbeamter vom Dienst ist er momentan der Chef der Harzer Polizei; bei größeren Einsätzen, gleich wo, laufen die Fäden in seinen Händen zusammen.
Leitende Einsatzbeamter vom Dienst im Polizeirevier Harz in Halberstadt koordiniert alle Einsätze
Neben Springer gibt es im Revier eine Handvoll weiterer Polizisten, die an dieser Schnittstelle arbeiten, darunter hin und wieder auch Sparwasser.
Der lässt sich gerade ein Stockwerk tiefer auf den aktuellen Stand bringen. Es habe über den Tag verteilt ein paar Unfälle gegeben, Ladendiebstähle, ein Amtshilfeersuchen, eine Aufenthaltsermittlung, einen Familienstreit …, zählt sein Kollege auf und kürzt ab: „Nichts Relevantes.“
Hier, wo früher die Notrufe angekommen sind – seit 2012 laufen sie zentral im Lage- und Führungszentrum in Magdeburg auf –, hat er ein Auge auf das, was zwischen Ditfurt und Ilsenburg los ist. Das ist, grob abgesteckt, der Bereich, in dem die in Halberstadt stationierten Streifenwagen in erster Linie eingesetzt werden.
Hier wird jeder empfangen, der jetzt noch in die Dienststelle kommt. Und hier landen alle, die die Nummer des Halberstädter Reviers – 6740 – wählen. Die Wache – sie ist das Herzstück der Dienststelle.
Zwei Radfahrer ohne Licht werden von den Polizisten verwarnt
Sparwasser, Weise und Harbrecht sind vom Hof gefahren. „Wenn wir keinen Auftrag haben, streifen wir durch die Gegend und gucken, was passiert“, erklärt Sparwasser, dabei liege der Fokus auf dem fließenden Verkehr. „Zweimal Licht“, sagt Weise plötzlich, und deutet auf den Fußweg. Soll heißen: kein Licht.
Denn die beiden Radfahrer sind in der Dunkelheit kaum auszumachen. Sie werden verwarnt. „Es muss nicht immer gleich Geld kosten“, meint Sparwasser, „wenn die Leute einsichtig sind, so wie die zwei, dann müssen wir sie nicht abstrafen.“
Einsichtig sind nicht alle. Er hält es da aber mit der alten Weisheit: „Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es wieder heraus.“ Klar, werden er und seine Kollegen auch blöd angemacht. „Das dürfen Sie nicht!“, ist einer dieser Standardsätze, den sie immer wieder hören, oder aber: „Habt ihr nichts Besseres zu tun?“
„Generell ist es in den vergangenen zehn bis 15 Jahren aber friedlicher geworden“
Eine neuere Tour: die Polizisten einfach nicht anerkennen – in bester Reichsbürgermanier. Für wen der Staat nicht existiert, der hat auch Probleme mit dessen Gesetzeshütern. Logisch. „Da muss man drüberstehen“, sagt Sabrina Weise.
Und wenn es doch mal unter die Gürtellinie geht, „wenn wir Beleidigungsanzeigen aufnehmen, gehen die durch; wer einmal bezahlt hat, will das nicht wieder. Wenn man da konsequent arbeitet, kommt schon was bei rum“, meint Sparwasser.
Beide sind weit davon entfernt, in die Unkenrufe vom Verfall der guten Sitten einzustimmen. Deutschland einig Pöbelland? Nein, nicht im Harz, wenngleich es auch Ecken gebe, in denen das „Pöbelniveau“, wie Sparwasser es nennt, höher sei als anderswo.
„Generell“, sagt er, „ist es in den letzten 10 bis 15 Jahren aber friedlicher geworden. Die, die damals die bösen Jungs waren, haben jetzt Familie.“
Die Ermittlung der mutmaßlichen Diebe von drei Elektro-Fahrrädern dürfte schwierig werden
Über die Autobahn 36 geht es nach Ilsenburg. In einem Fahrradgeschäft wurden am Nachmittag drei E-Bikes ausgeliehen – und bisher nicht zurückgebracht. Komische Typen seien das gewesen, erzählt der Ladeninhaber, sie hätten online reserviert, telefonisch umgebucht. Nur für ein paar Stunden wollten sie die Räder ausleihen.
Doch er schob seine Bedenken beiseite, seine Mitarbeiterin ließ sich von einem den Namen geben, eine Telefonnummer, Papiere zeigen. Damit – und mit den Aufnahmen aus der Überwachungskamera – sollte es doch kein Problem sein, die Räder zurückzuholen, sofort, glaubt er. Oder?
Weit gefehlt: Was nach mehr als nur ein paar Ermittlungsansätzen klingt, reicht noch nicht. Um etwa eine Handyortung zu veranlassen – sie erfolgt nur auf richterlichen Beschluss –, müsste eine schwere Straftat vorliegen, Leib oder Leben in Gefahr sein.
Und eine Durchsuchung? Wäre aus ermittlungstaktischen Gründen wohl kompliziert und rechtlich nicht vertretbar: „Es geht darum, eine Wohnung zu betreten, wenn man das noch nach 22 Uhr will, muss schon eine Menge passiert sein“, erklärt Sparwasser.
„Als Polizist muss ich aber gucken, was ich darf“, sagt Dirk Sparwasser
Was, wenn die es nur verschlampt haben, die Räder abzugeben? Was, wenn der Mann nicht der ist, der er vorgab zu sein? Was, wenn …? „Für den, der den Schaden hat, ist das schwer zu verstehen“, räumt er ein, „der erwartet natürlich, dass gleich was gemacht wird.
Als Polizist muss ich aber gucken, was ich darf.“ Und wenn einem da die Hände gebunden seien, müsse man eben erklären, warum. Die Kommunikation ist ein großes Thema im Polizeialltag. In jeder Situation. Deeskalation heißt das, was die Polizisten verinnerlicht haben. Sie bleiben cool, und das gibt einem das Gefühl von Sicherheit.
Zurück in Halberstadt. Was hier, vor der Kneipe, gerade los ist, wissen Sparwasser und Weise gar nicht so genau, nur, dass es eine Auseinandersetzung gegeben haben muss; sie kamen zufällig vorbei. Passiert ist eigentlich nichts. Links, am Auto, steht die Frau, weinend, um Fassung ringend; ihr Begleiter versucht, sie zu beruhigen.
Ruhig, sachlich, bestimmt - Polizisten schlichten einen Streit vor einer Kneipe in Halberstadt
Dann war da der Mann, der die Beamten herangewinkt hat, „weil da eine austickt“. Und jetzt kommen ein paar sich lautstark aufplusternde Halbstarke auf sie zu. Mit Worten – ruhig, sachlich, aber bestimmt – fangen die Polizisten die Situation ein.
Am Ende geht jeder seiner Wege. Oder fährt. Bis Sparwasser abrupt bremst. Ein Kleinbus schießt über die Kreuzung. „Der Polizei die Vorfahrt nehmen - das ist doof“, konstatiert er trocken. Also hinterher. Hier ist nichts mit Auge-Zudrücken. 25 Euro stehen im Bußgeldkatalog auf Vorfahrt mit Behinderung.
Die aus ihrer Sicht „entspannte Nacht“ beschert den Kollegen Gelegenheit, zu Papier zu bringen, was sie die letzten Stunden beschäftigt hat, Anzeigen zu schreiben. Zeit dazu ist nicht immer – dann, wenn ein Einsatz den nächsten jagt und noch mehr Schreibkram zu erledigen wäre als ohnehin schon.
„Es ist noch was liegengeblieben von gestern“, sagt Sabrina Weise, und tippt auf ein Plastiktütchen mit Crystal
Deshalb nutzen sie die Stunde jetzt umso intensiver. „Es ist noch was liegengeblieben von gestern, da habe ich einen mit Crystal erwischt“, sagt Sabrina Weise, und tippt auf ein Plastiktütchen mit weißem, kristallinem Pulver darin.
Methamphetamin gehört zu den gefährlichsten Drogen überhaupt. Sparwasser und Harbrecht erstellen derweil die Akte für den Betrugsfall in Ilsenburg. Eine Pause gönnen sie sich nicht, essen nebenbei – und lassen mit dem nächsten Funkspruch alles stehen und liegen. Einsatz: Friedrich-List-Straße 1a.
Polizisten und die Security eilen ins oberste Stockwerk; die Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes erzählen von einem Mann, der sich getrennt habe, und von einem heftigen Streit mit seiner Frau – um einen Tablet-Computer. Er steht, die Hände auf die Oberschenkel gestützt, im Flur.
Sie hat sich in ein Zimmer geflüchtet und offenbart sich dort einer Beamtin. Die kommt nach ein paar Minuten raus und fasst – polizeilich-nüchtern – zusammen: „Keine Handgreiflichkeiten, nur ein gebrochenes Herz.“ Auch das – (k)ein Fall für die Polizei. (mz)