Epidemie 1865 in Hedersleben Epidemie 1865 in Hedersleben: Trichinen töten 100 Menschen

Hedersleben - Noch immer ist die Geflügelgrippe auch in Sachsen-Anhalt nicht abgeklungen. Vor Jahren setzten Meldungen zu Rinderwahn und Schweinepest vor allem ältere Menschen in Alarmbereitschaft.
Doch gesundheitliche Gefahren drohten den Menschen schon immer, weil bestimmte Krankheiten kaum bekannt oder (noch) nicht erforscht waren.
Auch der Verzehr von Fleisch war immer mit Risiken behaftet, wie die Hederslebener vor über 150 Jahren auf schmerzhafte Weise erfahren mussten. Aus verschiedenen Texten der damaligen Zeit ergibt sich die folgende Geschichte.
20 Landarbeiter erkrankten
Ende Oktober 1865 erkrankten in Hedersleben plötzlich etwa 20 Landarbeiter - an Cholera, wie es anfangs hieß. Wegen dieser Diagnose und der Angst vor Ansteckung flüchteten viele aus dem Ort, erkrankten aber unterwegs und blieben deshalb in den umliegenden Dorfschenken liegen. Eine erste Untersuchung ergab allerdings, dass es sich nicht um die durch ein Bakterium hervorgerufene Infektionskrankheit Cholera handelte.
Erst bei der zweiten Obduktion wurden zahlreiche Darmtrichinen gefunden und das bestätigte den behandelnden Arzt Carl Heinrich Friedrich Kratz. Der Doktor hatte die Krankheit von Beginn an für Trichinellose gehalten und den Krankheitsverlauf ein Jahr später in einem Buch beschrieben.
Trichinen sind Fadenwürmer bis zu vier Millimetern Größe, deren Larven hauptsächlich über rohes oder ungenügend gegartes Fleisch von Schweinen in den menschlichen Körper gelangen können.
Umfang der Epidemie war groß
Der Umfang der Epidemie in Hedersleben war ein ungeheurer, denn von der 2.000 Seelen zählenden Bevölkerung erkrankten etwa 350 Menschen, einige Quellen nennen die Zahl 337. Etwa 80 bis 90 starben, in anderen Berichten ist sogar von über 100 die Rede. Diese Zahl könnte aber auf die anfängliche Flucht der Menschen zurückzuführen sein.
Doch wie konnte es dazu kommen?
Die Schuld am Tod der Menschen wird dem Schlachter Friedrich Becker aus der Jordanstraße zugeschrieben. Er soll am 25. Oktober eine infizierte dreijährige Sau geschlachtet haben, eine andere Quelle spricht sogar von zwei Schweinen. Das Fleisch wurde verkauft, viele aßen es. Kontrollen wurden erst nach diesem Vorfall eingeführt.
Hackfleisch wurde roh verzehrt
Die Intensität der Krankheit ist damit zu erklären, dass rund 200 der Erkrankten das Hackfleisch roh verzehrten. Doch auch durch gekochtes Fleisch und Schweinebraten wurden manche infiziert.
Die Symptome waren anfangs starke Durchfälle, Erbrechen, Schmerzen des Solarplexus, eines Nervengeflechts im Bauchraum, und in der Magengegend. Schweiß und unterdrückter, leicht erhöhter Puls ließen zunächst andere Vergiftungen vermuten.
Die Durchfälle hörten bald auf, dagegen zeigten sich ab dritter bis fünfter Woche Störungen der Atmungsorgane, verbunden mit Anfällen meist in der Nacht, wie es Kratz beschrieb. Ab sechster Woche traten Mangelerscheinungen auf, die zum Abbau aller Energie- und Eiweißreserven führten.
Weitere Symptome gefunden
Weitere Symptome waren Ödeme, Wassereinlagerungen zumeist in den Augenlidern, aber auch der Arme und Beine.
Kratz: „Sie fehlten in keinem Falle, variierten aber nach Zeit des Auftretens, Stelle und Umfang.“ Ein nie fehlendes Zeichen war nach Kratz eine eigentümliche Empfindlichkeit, teilweise Spannung der Beugemuskeln von Extremitäten und des Nackens, die etwas nachließ, um intensiver wiederzukehren.
Erst günstige Prognose gestellt
Der Verlauf zeigte häufig ein Nachlassen der Krankheit, so dass Kratz geneigt war, eine günstige Prognose zu stellen.
Doch bald kehrte sie noch heftiger zurück und führte auf qualvolle Weise zum Tod, meist zwischen dritter und fünfter Woche. Auch danach erlagen viele der Krankheit, hervorgerufen durch den Wurmbefall.
Der Arzt stellte auch Tendenzen fest, wie die große Zahl erkrankter Kinder bis hinunter zu drei Jahren. „Alle kamen mit dem Leben davon.“ Auch starben weniger Frauen als Männer, weil sie vielleicht weniger Fleisch gegessen hatten.
Behandlung mit Benzin
Weil anfangs außer vielen Entzündungen der Magen- und Darmschleimhaut nichts gefunden wurde, behandelte der Arzt die Patienten mit Benzin. Aller zwei Stunden wurde ein Löffel gereicht - allerdings „ohne erheblichen Nutzen, wie es scheint“, so Kratz.
Obgleich das Benzin gern genommen wurde, ohne Durchfälle zu steigern, soll es einen rauschartigen Zustand mit Muskelerschlaffung erzeugt und die Trichinose gesteigert haben.
Außerdem wurden Abführmittel, Chinin, Eisen und Wein ausprobiert. Opium zur Stillung der Durchfälle war ungünstig: 27 Fälle, in denen es angewandt wurde, endeten bis auf einen alle tödlich.
Fast war die Geschichte schon vergessen worden, als Fleischermeister Becker aus Beelitz 1988 in Hedersleben landete. Als Nachfahre jenes Becker, dem die Schuld gegeben wurde, wollte er Einzelheiten über die Trichinen-Epidemie erfahren.
Geschichte wurde ausgeschmückt
Während in der Ortschronik steht, dass der Verursacher aus Gram darüber bald gestorben sei und zwei Kinder hinterließ, die in ein christliches Waisenhaus kamen, schmückte die „Wöchentlichen Anzeigen für das Fürstentum Ratzeburg“ die Geschichte aus:
„Sterbend lernte der Schlachter in Hedersleben die Trichinen kennen. Er glaubte nicht an sie und aß mit seiner ebenso ungläubigen Ehehälfte nach Herzenslust von dem Schwein, das er geschlachtet; es erging ihm wie allen Gästen, er wurde trichinenkrank. Er und seine Frau waren die ersten in Hedersleben, die der Krankheit erlagen.“
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Erstmals wurden Trichinenlarven 1835 in einem Londoner Krankenhaus entdeckt. Die erste Beschreibung der Trichinellose beim Menschen erfolgte erst 1860 durch Friedrich Albert Zenker in Dresden-Friedrichstadt.
Die Todesfälle durch Trichinen in verschiedenen Orten zu dieser Zeit, belegt sind auch welche in Hettstedt, sorgten dafür, dass ab 1868 in Preußen städtische Schlachthäuser eingeführt wurden. Das Schlachthofgesetz machte zudem eine Trichinenbeschau bei jedem Schwein vor der Schlachtung obligatorisch.
Das preußische Lebensmittelrecht von 1879 war seinerzeit das modernste seiner Art eines Staates. Die Reinheit von Lebensmitteln oder ihre Unverfälschtheit lagen schließlich im Gesundheitsinteresse aller Bürger. Das Fleischbeschaugesetz selbst wurde aber erst 1902 erlassen.
Zahlreiche Versuche ergaben, dass Trichinen beim Erwärmen von Fleisch über 57 Grad absterben, aber nur, wenn es einige Stunden gekocht oder gebraten wird. Auch große Mengen Salz töten die Trichinen ab, wie es beim Pökelfleisch angewendet wird. (mz)
