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Kulturhauptstadt Silberglanz und Kumpeltod statt Marx - Hier schlägt das neue Herz Europas

Gemeinsam mit dem slowenischen Nova Gorica und dem benachbarten Gorizia in Italien ist Chemnitzin diesem Jahr Kulturhauptstadt des Kontinents. Die sächsische Metropole schickt sich bei dieser Gelegenheit an, ihr Image der grauen Maus im Schatten von Dresden und Leipzig abzulegen. Tausende Veranstaltungen lohnen die Reise.

Von Steffen Könau 12.04.2025, 09:00
Chemnitz Kulturhauptstadt 2025
Chemnitz Kulturhauptstadt 2025 Foto: Chemnitz 2025

Chemnitz/MZ. - Hannover, Nürnberg und Magdeburg wären es gern geworden, doch die Jury entschied sich schließlich für Chemnitz, die drittgrößte Stadt Sachsens, die traditionell im Schatten von Dresden und Leipzig steht. Fünf Jahre nach dem im früheren Karl-Marx-Stadt bejubelten Zuschlag ist es nun soweit: Chemnitz darf sich wie Nova Gorica in Slowenien und Gorizia in Italien für zwölf Monate mit dem Beinamen Europäische Kulturhauptstadt schmücken.

Die Eröffnung samt großer Show fand im Januar statt, doch über das gesamte Jahr verteilt sind in der Stadt und der Region mehr als 1.000 Veranstaltungen geplant. Im Mittelpunkt steht das industrielle Erbe der Spinnerei- und Maschinenbaustadt die sich in ihrer Geschichte so viele Male neu erfunden hat. Aktionen wie „Ersatzteillager“ – eine Kunstinstallation, die im historischen Aufzug einer Hochgarage präsentiert wird – erzählen diese sogenannten „Tales of Transformation“ weiter. Dazu gibt es über das gesamte Jahr Auftritte von Stars wie John Cage und Till Brönner, im Mai findet die Gala zum Europäischen Kulturpreis statt und beim Kulturhauptstadt-Marathon kann jeder mitlaufen.

Wandern zur Kunst

Chemnitz ist Kulturhauptstadt, und das bedeutet natürlich auch, dass die Metropole in Mittelsachsen Neugierigen in den kommenden Monaten zahllose Angebote auch im künstlerischen Bereich machen wird. Für Kunstliebhaber führt kein Weg an der drittgrößten Stadt des Freistaates vorbei.

Die stand im Laufe der Geschichte stets im Schatten der benachbarten Großstädte Leipzig und Dresden. Das ist jetzt anders. Mit einem vielfältigen Programm, das vom Lebensreform-Architekten, Designer und Pionier des Jugendstils Henry van de Velde über die Ausstellung „European Realities“ bis zu einer großen Edvard-Munch-Schau unter dem Namen „Angst“ reicht, lockt die alte Industriestadt Besucher an.

Chemnitz ist Kulturhauptstadt 2025
Chemnitz ist Kulturhauptstadt 2025
Foto: Chemnitz 2025

Ein Highlight ist der „Purple Path“, ein Kunst- und Skulpturenpfad, der die 245.000-Einwohner-Stadt mit 38 Kommunen im Umland verbindet. Entlang des 100 Kilometer langen Pfades sind Werke von über 70 bedeutenden internationalen Künstlern zu sehen, die Themen wie das kulturelle Erbe, den Bergbau und die Industrialisierung sowie ökologische und soziale Nachhaltigkeit behandeln.

Wie das Projekt „#3000Garagen“, das Garagen als kreative Orte mit Ausstellungen und Workshops zeigt, ist auch die Ausstellung „Silberglanz & Kumpeltod“ im Staatlichen Museum für Archäologie Chemnitz bereits geöffnet. Das Festival „Begehungen“ mit zeitgenössischer Kunst in einem ehemaligen Braunkohlekraftwerk dagegen startet erst im Juli.

Kultur im Osten

Ausgerechnet! Verglichen mit Dresden und Leipzig, jeweils nur rund 70 Kilometer entfernt, gilt Sachsens dritte Großstadt traditionell als das graue, von einer Geschichte als Industriestandort geprägte „sächsische Manchester“. 1143 erstmals als „Kameniz“ erwähnt, hat die Geburtsstadt des Malers Karl Schmidt-Rottluff, des Schriftstellers Stefan Heym, der Eiskunstläuferin Katarina Witt und des Sängers Dirk Michaelis aber gerade im Kulturhauptstadtjahr viel mehr zu bieten als Ausstellungen zur Industriekultur und Einblicke in die Kunstsammlung der Wismut AG.

Theater- und Opernfans kommen in Chemnitz 2025 voll auf ihre Kosten. Das Theater Chemnitz bringt im September die Oper „Rummelplatz“ von Ludger Vollmer und Jenny Erpenbeck auf die Bühne, basierend auf Werner Bräunigs berühmtem Roman über die Wismut-Bergbaugeschichte. Künstlerinnen aus Rumänien, Georgien, Russland, den USA und Deutschland bespielen ein gemeinsames Bühnenbild an der Oper Chemnitz, einem zentralen Spielort. Im Juni wird dann das Festival „Tanz Moderne Tanz“ zeitgenössischen Tanz mit Architektur und Zirkus verbinden.

Mehr Informationen: www.chemnitz2025.de

Lesen lernen

Nach der Buchmesse ist vor dem nächsten Buch. Mit Veranstaltungen und Lesungen will die Kulturhauptstadt Chemnitz zeigen, dass das Lesen lebt. Das Projekt „Rummelplatz“ − so benannt nach Werner Bräunigs berühmtem Roman − startet mit Schreibwerkstätten und mündet in Lesungen sowie einer Buchveröffentlichung. Die Chemnitzer Stadtbibliothek wird zum Schauplatz einiger literarischer Events, so ist Booker-Preisträgerin Jenny Erpenbeck zu Gast. Auch beim „Kosmos“-Festival, das mit kostenlosem Eintritt lockt, gibt es nicht nur Musik auf die Ohren, sondern Lesungen und Diskussionen mit internationalen Gästen. Während der Lesereihe „Das demokratische Chemnitz liest!“, die in Erinnerung an die Bücherverbrennungen der Nazis am 10. Mai stattfindet, lesen Chemnitzerinnen und Chemnitzer von Sonnenaufgang um 5.26 Uhr bis Sonnenuntergang um 20.43 Uhr aus verbrannter Literatur und couragierten Texten.

Mehr Informationen: www.kosmos-chemnitz.de

Ihr Kinder kommet

So viel Kunst, so viel Kultur, so viel Bedeutung. Doch die Kulturhauptstadt hält natürlich auch spannende Angebote für Kinder, Jugendliche und Familien bereit. Das Programm umfasst Workshops, Festivals und interaktive Veranstaltungen. Mitmachen statt nur Stehen, Sehen und Staunen lautet das Motto. Etwa im Foyer des Archäologiemuseums. Hier können junge Besucher in einer Kreativwerkstatt Bergbau-Anstecker basteln und Lego-Stollen bauen, es dürfen Holzsterne bemalt und Schätze in einer Konfettibox gejagt werden.

Mit dem mystischen Urwald „Miriquidi“ hat die Denkstatt Erzgebirge aus dem legendären DDR-Vero-Construc-Baukasten ein Campkonzept mit Zelten und Küchenmodulen entwickelt, das nahe der Spielzeugstadt Seiffen ausprobiert werden kann. Im November startet dann der „Maker-Advent“, eine weihnachtliche Mitmachaktion, die die Idee der „Werkstatt der Wunder“ in Augustusburg mit noch mehr Workshops, 3D-Druckern, Textilwerkstätten und Gemeinschaftsküchen fortsetzt.

Stars und Festivals

Kunst, Kultur, Theater und Ausstellungen − wem das alles zu ernsthaft klingt, der kann sich in der Kulturhauptstadt auch anderweitig unterhalten lassen. Chemnitz wird zum Pilgerort für Musikfans: Vom Superstar Bryan Adams, der am Tag nach seinem Auftritt in Halle am 6. August auf der Küchwaldwiese gastiert, über den Rapper Sido (10. August) bis zum „Kosmos“-Festival geben sich Rock- und Popstars die Klinkenstecker in die Hand.

Beim „Kosmos“-Festival, das schon länger in Chemnitz zuhause ist, laden diesmal vom 13. bis 15. Juni lokale und internationale DJs auf das Areal rund um den Schloßteich. Neben der Band Juli, die 2004 mit dem Song „Perfekte Welle“ durchstartete, tritt der Rapper Disarstar auf, die Indie-Stars Lena & Linus sind zu Gast und die Sängerinnen Paula Engels und Ami Warning sorgen für Musik, die Fans von Independent-Musik begeistert.

Dazu gibt es kleinere Konzerte an ungewöhnlichen Orten wie Bushaltestellen. Das „Hutfestival“, das am 30. Mai beginnt und bis zum 1. Juni läuft, ist ein Klassentreffen der Straßenmusiker. Mehr als 200 Künstler bringen Straßenkunst in die Innenstadt, ehe beim „Tanz Moderne Tanz“-Fest vom 18. bis zum 29. Juni Performer und Companys von fünf Kontinenten auftreten − unter anderem wird ein Weltrekordversuch gestartet, um die größte und längste Ballettklasse der Weltgeschichte zu formieren.

Mehr Informationen: www.tanzmodernetanz.eu

Industrie als Ereignis

Grau, öde und ohne bekannte Kulturdenkmäler, abgesehen vom berühmten „Nischel“, den der sowjetische Bildhauer Lew Kerbel schuf und der 1971 im damaligen Karl-Marx-Stadt aufgestellt wurde − das ist das Klischeebild, das viele Nicht-Chemnitzer von der Stadt am Fluss Chemnitz haben.

Ein Vorurteil, das das „sächsische Manchester“ seiner langen Industriegeschichte verdankt. Im 17. Jahrhundert war Chemnitz ein Zentrum der Strumpfwirkerei, im frühen 19. Jahrhundert begann der Aufschwung der Textil- und Maschinenbauindustrie. Chemnitz wurde zu einem Zentrum technischer Innovation, die Autoindustrie siedelte sich an und Chemnitz erarbeitete sich den Ruf einer Hochburg präziser Ingenieurskunst. Dieser industrielle Erfolg verschaffte der Stadt Wohlstand, aber auch den Ruf einer rußigen Arbeiterstadt, den die Kulturstadt jetzt widerlegen will.

Architektur- und Industriekultur-Fans finden in Chemnitz 2025 etwa die Villa Esche, ein Jugendstil-Meisterwerk von Henry van de Velde, die dessen Einfluss auf die Lebensreformbewegung zeigt. Die „Werkschau – Made in Sachsen“ in der ehemaligen Vulkan AG präsentiert Industriekultur als Kreativraum. Das Industriemuseum vergleicht in „Tales of Transformation“ die Entwicklung von Industriestädten, während „Silberglanz & Kumpeltod“ die Bergbaugeschichte beleuchtet. Die Stadt selbst, eine Mischung aus Jugendstil, DDR-Moderne und Post-1990, zeigt sich als „Stadt der Moderne“.