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Neu entdeckter Roman von Brigitte Reimann Liebe und Verrat

Zu lebhaft, zu eigensinnig: Nach 70 Jahren erscheint Brigitte Reimanns Schulroman „Die Denunziantin“ – ein Debüt, das keines werden durfte.

Von Christian Eger Aktualisiert: 15.11.2022, 15:10
Schriftstellerin Brigitte Reimann: Bloß kein Sonntagsdeutsch
Schriftstellerin Brigitte Reimann: Bloß kein Sonntagsdeutsch (Foto: dpa)

HALLE/MZ - Berlin im Februar 1951: Ein junges, aus dem Jerichower Land angereistes Abiturientenpärchen spaziert durch die geteilte, aber noch nicht von einer Mauer getrennte Hauptstadt. Berlin! Das ist für Eva und Klaus ein Abenteuer. Ein Vergnügen. Bei allen sichtbaren Zerstörungen das Erlebnis einer großen Stadt.

Hier dürfen sich die Jugendlichen öffentlich küssen, ohne dass es jemanden stört. Sie können einander „am hellen Tage einhaken“ und so Arm in Arm durch die Straßen laufen, was zu Hause nur die Verlobten oder die „So-gut-wie-Verlobten“ dürfen.

Die Hundertfünfzigprozentige

Für Eva und Klaus ist der Ausflug eine kurze Auszeit von der Provinz. Und von der politischen Strenge, mit der die Ausbildung an ihrer Schule vollzogen wird. Einer Ausbildung, der sich Eva, die Tochter eines in den NS-Jahren hingerichteten Kommunisten, ganz und gar verschrieben hat. „Überfortschrittlich war sie – ,150%ig’ – wie das im Slang der Penne hieß.“ „Überfortschrittlich“, wie es die Schriftstellerin Brigitte Reimann nach eigener Auskunft selbst gewesen war, die 1950 für den besten Stalin-Aufsatz des Landes Sachsen-Anhalt ausgezeichnet worden war.

Mit Eva als Hauptfigur verfasste die 1933 in Burg bei Magdeburg geborene Autorin 1952 im Alter von 19 Jahren ihren ersten Roman, der jetzt unter seinem Originaltitel „Die Denunziantin“ erstmals in seiner ersten, unveränderten Fassung erscheint – herausgegeben von der Reimann-Expertin Kristina Stella aus dem im Literaturzentrum Neubrandenburg aufbewahrten Teilnachlass der 1973 gestorbenen Schriftstellerin.

Nicht weniger als Brigitte Reimanns „denkwürdiger erster Schritt auf die literarische Bühne“ sollte das Buch werden, schreibt Kristina Stella. Doch die DDR-Verlage druckten nicht. Denkwürdig ist der Roman geblieben. Und durchaus lesewürdig ist, was da nun nach 70 Jahren vorliegt.

„Die Denunziantin“: ein sperriger Titel, ästhetisch ein Kassengift, auch kein rundum gelungener Roman. Aber doch ein interessantes Buch in kultur- und in literaturhistorischer Hinsicht. Ein Bericht aus der „Wokeness“-Kultur der 1950er Jahre, der Kultur der politischen „Wachsamkeit“, die Eva dazu bringt, ihren nicht linientreuen Deutschlehrer bei der Schulleitung anzuzeigen, weil dieser im Unterricht fragte, ob man noch 1951 die Schüler mit Antifa-Stoffen beschäftigen sollte, zumal der Widerstand im NS-Staat offenkundig „weder Sinn und Zweck“ hatte. Ein Einwurf, der Eva zum Äußersten treibt: Sie will den Lehrer aus der Schule entfernen lassen. Plötzlich ist die Schülerin „die Denunziantin“: Ausgegrenzt in der Schule, in der Klasse und von Klaus, der sie verlässt.

Liebe und Verrat. Erstens, die Denunziation, und, zweitens, die Erfahrung, eine Denunziantin zu sein, treiben den Roman an, der ein Schul- und Schülerroman ist – und ein sozialistisches Märchen, so stereotyp geht die Zeichnung der Charaktere und der politisch läuternde Verlauf der Handlung voran. Aber die Alltagselemente machen das wendungsreiche Geschehen interessant bis in die lebensnahe Sprache. Jemand ist in irgendeinem Fach eine „Kanone“ oder hat „Bombenerfolge“. Hier folgte die Autorin, die 1950 das Abitur an der Geschwister-Scholl-Oberschule in Burg erwarb, einer Empfehlung von Anna Seghers. 1952 hatte ihr die Schriftstellerin handschriftlich mitgeteilt: „Schreiben Sie nur kein Sonntagsdeutsch, schreiben Sie nur, was Sie wirklich denken und erleben.“

Genau das tat Brigitte Reimann – sehr zum Verdruss der Lektoren, die das Manuskript schließlich vom Mitteldeutschen Verlag in Halle weg zum Verlag Neues Leben wandern ließen. Was da geschah, dokumentiert Kristina Stella ausführlich im Anhang.

Unter den starken Einwänden, die im wechselnden politischen Licht immer wieder neue Überarbeitungen erzwangen, sind zwei besonders interessant. Die Schilderung des denunzierten Studienrates verstieß gegen ein Tabu: Dass es auch „reaktionäre“ Altlehrer in den neuen Schulen gegeben hatte, durfte nicht gezeigt werden. Und die – deutlich nach der Autorin gezeichnete – Figur der Eva erschien den Zensoren als zu selbstbewusst, zu lebhaft, zu eigensinnig, kurzum, als zu wenig lenkbar.

Qualvolles Lektorat

Über vier Fassungen quälte sich das Lektorat, bis 1958 der Roman-Vertrag aufgelöst wurde. Unter dem Titel „Wenn die Stunde ist, zu sprechen…“ erschien das Fragment der vierten Fassung posthum im Jahr 2003 in der Sammlung „Das Mädchen auf der Lotosblume“ im Aufbau Verlag.

Diese Fassung hatte wenig mit dem Ursprungsroman zu tun, der jetzt vorliegt. Ein Dokument, in dem bei aller Schwarz-Weiß-Malerei der Figuren und der sozialistischen Bilderbuch-Dramaturgie der Handlung doch bereits der vitale Eigensinn der Autorin sichtbar wird, wie er sich im Roman „Franziska Linkerhand“, mehr noch in den Tagebüchern ganz entfalten sollte. Sich am Ende nicht mit den Zensoren arrangiert zu haben, wie der Anhang zeigt, ist ein Verdienst der jungen Autorin. Diese Entschiedenheit ist ihr eigentliches literarisches Debüt.

Aus dem Brief, den Anna Seghers 1952 an Brigitte Reimann geschrieben hatte, schnitt sich diese einen Satz aus, den sie mit dem Porträt der Schriftstellerin unter Glas arrangierte, und der ihr fortan als Orientierung diente: „Zum Schreiben gehört eine gewisse Kühnheit wie zu allen wichtigen Unternehmen.“

Brigitte Reimann: Die Denunziantin. Hg. von Kristina Stella, Aisthesis Verlag, Bielefeld 2022, 377 Seiten, 24 Euro