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Göbel-Skulptur im „Roten Ochsen“ Mit dem Kran über die Gefängnismauer

In der Gedenkstätte „Roter Ochse“ in Halle wurde Bernd Göbels Großskulptur „Widerstehen“ aufgestellt. Fast 40 Jahre musste das Kunstwerk auf seinen Auftritt warten.

Von Christian Eger Aktualisiert: 16.09.2024, 16:39
„Kein Aufgeben, kein sich Fügen“: Bildhauer Bernd Göbel im Innenhof der Gedenkstätte „Roter Ochse“ vor der Skulptur „Widerstehen“.
„Kein Aufgeben, kein sich Fügen“: Bildhauer Bernd Göbel im Innenhof der Gedenkstätte „Roter Ochse“ vor der Skulptur „Widerstehen“. (Foto: Eva Göbel)

HALLE/MZ. - Viel hat das hallesche Zuchthaus „Roter Ochse“ gesehen, das aber noch nie: Am 27. August wurde, befestigt an einem fahrbaren Kran, eine menschliche Gestalt von außen über die Backsteinmauer ins Innere der Gefängnisanlage gehoben. Kein Mensch aus Fleisch und Blut, sondern aus Bronze. Eine von dem halleschen Bildhauer Bernd Göbel gefertigte Skulptur, etwa zwei Meter hoch.

Ein Vorgang, der nicht nur die Blicke der Passanten, sondern auch die von Gefangenen auf sich zog, die von ihren Fenstern aus den Einsatz beobachteten. Der Traum, die Mauer zu überwinden, zielt ja eigentlich in die Gegenrichtung. Nicht über die Mauer herein ins Gefängnis, sondern heraus.

Vor der Richtstätte

Ein spektakuläres Ereignis also. Und das in mehrfacher Hinsicht. Denn hier gilt es der Kunst – und dem Gedenken. Der Erinnerung an Menschen, die aus politischen Gründen in dem Zuchthaus während der NS- und DDR-Jahre inhaftiert – und in den späten NS-Jahren hingerichtet worden waren.

Seit 1996 ist das 1842 eröffnete, noch immer aktive Gefängnis in einem Teil auch Gedenkstätte. Dort, in dem schmalen, seit dem Jahr 2000 von einer Mauer zum aktiven Gefängnis hin abgeteilten Innenhof wurde die Skulptur aufgestellt, die erstmals den Angehörigen von Menschen präsentiert wurde, die in Halle im Zuge der jetzt in einer Ausstellung im Stadtgeschichtsmuseum dokumentierten Tätigkeit des NS-Reichskriegsgerichtes inhaftiert und ermordet worden waren. 549 Menschen aus 15 Ländern Europas und aus Tunesien, getötet von 1942 bis 1945.

Deren Angehörige waren die Ersten, die das Kunstwerk sehen konnten, das unter dem Titel „Widerstehen“ von Bernd Göbel geschaffen wurde. Ein fast monumentales Werk, das zu den bedeutendsten Arbeiten des prominenten Künstlers – und zu den fortan prominentesten öffentlichen Kunstwerken in Halle gehören wird. So eindrücklich wie Wolfgang Mattheuers Skulptur „Der Jahrhundertschritt“ (1984), die inzwischen in der Dauerausstellung der Moritzburg steht. Göbels Skulptur wäre als Pendant zu der populären Arbeit zu begreifen.

„Kein Aufgeben, kein sich Fügen“: Bildhauer Bernd Göbel im Innenhof der Gedenkstätte „Roter Ochse“ vor der Skulptur „Widerstehen“.
„Kein Aufgeben, kein sich Fügen“: Bildhauer Bernd Göbel im Innenhof der Gedenkstätte „Roter Ochse“ vor der Skulptur „Widerstehen“.
(Foto: Eva Göbel)

Ein Kunstwerk am richtigen Ort. Wer den Innenhof von der Gedenkstätte aus betritt, erlebt einen nahezu kunstvoll geometrisch klar definierten, mit Schotter bedeckten Raum. Links der historische Zellenbau, rechts eine hohe Mauer, in der Mitte die Mauer vom Jahr 2000. Vor dieser steht auf einem Betonsockel, der die Struktur einer Holzverschalung zeigt, die neue Figur, wenige Schritte von der Tür entfernt, die bis 1945 zur Richtstätte, danach zum Vernehmergebäude der Stasi führte.

Der Eindruck, den die Figur auslöst, ist stark. Durch den Raum, in dem sie wirkt. Durch den Ort, mit dem sie spricht. Aus dem Bogen der Bewegung heraus, die sie der stummen, gewaltvollen Konstellation des Ortes entgegensetzt.

Ein Mensch – ein nackter Mann –, der sich von den Knien aus mit locker übereinander gekreuzten Armen scharf nach hinten beugt, wie um vor einer Gefahr auszuweichen. Einer, der seine Knie beugt, um sich zu halten, der aber nicht auf die Knie geht, um sich der Gewalt zu beugen. Kein Marsch-, sondern ein Ausweichschritt. Eine Bewegung, um in der äußeren und inneren Balance zu bleiben. Eine Figur, die die Hochenergie-Stille des Zellenhofes noch einmal zusätzlich auflädt.

Gegossen in Tschechien

Keine Appell-Skulptur. Göbel ist ganz bei der menschlichen Gestalt, die anschlussfähig ist für alle Begegnungen mit Gewalt. Nicht kämpferisch wie bei den Gestalten von Fritz Cremer, nicht allegorisch wie bei Mattheuer, nicht poetisch elegisch wie bei Wieland Förster, sondern unaufdringlich vital.

Bernd Göbel, 81, hat lange auf den Moment der öffentlichen Präsentation gewartet. Von Ende der 1980er Jahre an arbeitete der vormalige „Burg“-Professor an der Figur, die für die Gedenkstätte Torgau entworfen war, ein Projekt, das sich aber erst vor und dann nach 1989 zerschlug. Dass das nichts mehr werde, damit hatte Göbel gerechnet, bis er 2014 den Leiter der Gedenkstätte „Roter Ochse“, Michael Viebig, kennenlernte. Der erkannte sofort, was zu machen ist.

Rund 50.000 Euro, finanziert von der Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt, kostete in Tschechien das Gießen der Figur; der Künstler nahm kein Honorar. Eine Bronze mit innerer Edelstahlarmierung, etwas, das bleiben wird, sollte die Justizvollzugsanstalt nach 2029 aufgelöst werden.

Verborgene Inschrift

Was es für ihn selbst mit der Plastik auf sich hat, formulierte Bernd Göbel in einem kurzen Text: „In einer Zeit fühlbarer äußerer und innerer Bedrohungen menschlicher Selbstverständlichkeiten entstanden in den achtziger Jahren Figuren, die ein Bemühen oder Ringen um Selbstbehauptung beinhalteten. Anfangs waren es Figuren, die ich unter historisch bekannte Themen stellte, Abwehrende oder selbst dynamisch Bewegte, also David, der kleine Widerstehende. Der große Bogen eines nach hinten Gebeugten war der Endpunkt meiner Versuche – ein extrem gespannter Leib, dessen letzte Energien über spitze Winkel kräftiger Knie zurück zum Ort der Existenz geführt werden. Füße verkrallen sich deutlich. Kein Aufgeben, kein sich Fügen, WIDERSTEHEN.“

Warum die Gestalt eines Mannes? Nicht die einer Frau? Es seien die Männer gewesen, die den größten Schaden in der Welt angerichtet hätten, sagt Bernd Göbel. Und: „Es tut mir bei den männlichen Akten nicht so weh, wenn ich sie verforme.“ Der Bildhauer sieht sein Werk nicht ideologisch, nicht tagespolitisch, nicht „literarisch“, wie er sagt, also im Nachspiel einer historischen Situation. Er bietet kein „Figurentheater“. Nur das: ein Mensch, der sich behauptet.

Seit Jahren notiert Bernd Göbel eine kurze persönliche Botschaft auf die Sockelflächen, auf die seine Skulpturen gestellt werden. Hier nun schrieb er mit schwarzem Filzstift: „Nicht einschmelzen für Waffen!“ – die Forderung eines Mannes, der ein Kriegskind ist, das 1944 die Bombenangriffe auf seine Heimatstadt Freiberg überlebte. So lange die Figur „Widerstehen“ steht, wird sie nicht lesbar sein.

Gedenkstätte Roter Ochse in Halle, Am Kirchtor 20b. Geöffnet: Mo u. Fr 10-14 Uhr, Di-Do 10-16 Uhr