Erzählung von Günter Grass über Naumburger Stifterfiguren Die ewige Uta
Die berühmteste Naumburger Stifterfigur regte Günter Grass zu einer Erzählung an, die jetzt posthum erscheint. Eine kleine Sensation

HALLE/MZ - Zweimal wurde die Reise verboten, dann flattert die Genehmigung ins Haus. Gemeinsam mit seiner Ehefrau Ute reist Günter Grass 1988 von seinem Wohnsitz bei Lübeck aus in die DDR. Eingeladen von dem Magdeburger Pfarrer Hans-Jochen Tschiche, soll der weltberühmte „Blechtrommel“-Autor, der im Jahr 1999 den Literaturnobelpreis erhalten wird, in Kirchen und Gemeindehäusern lesen. Für Grass das reine Vergnügen: „Namen altersgrauer Städte – Magdeburg, Halle an der Saale, Jena und Erfurt – versprachen eine die Jahre zurückerzählende Reise“.
Der Autor ist aufgeregt. Das Publikum ist es auch. Weil in Halle der Saal der Evangelischen Stadtmission am Weidenplan die vielen Zuhörer nicht fassen kann, muss das Volk quer durch die Altstadt in die katholische Moritzkirche eilen. Die ist „bis auf den letzten Platz belegt“, notiert Grass.
Hinein ins Mittelalter
Der Dichter genießt die Fahrten über Land. Überall Geschichte. Grass, der sich stets lieber in der Vergangenheit als in der Gegenwart aufhält, ist ganz in seinem Element: „Seit meiner Jugend wünschte ich mich treppab, unauffindbar in immer anderer Zeitweil“. Nun also das mitteldeutsche Gelände. „Das Mittelalter, redete ich mir beharrlich ein, liegt uns ferner als das Römische Reich. Östlich vom Harz, etwa in Quedlinburg, gibt es mehr zu entdecken als in den frühchristlichen Katakomben nahe der Via Appia.“
Zwischen den Lesungen geht die Fahrt nach Naumburg: nicht zu Nietzsche, sondern zu den Stifterfiguren im Westchor des Doms. Unbehelligt treffen Ute und Günter Grass in der Kreisstadt ein. „Wir sprachen mit niemandem. Und niemand sprach mit uns.“ Sie sehen die Stadt, „grau und geduckt zu Füßen des Doms“. Es „zerfielen die Altbauten wie in Zeitlupe; hier ansässig, wäre Verfall mitzuschreiben gewesen.“
Grass schreibt anderes mit. Was er da notierte, ist jetzt von Hilke Ohsoling und Jan Strümpel aus dem Nachlass des 2015 im Alter von 87 Jahren gestorbenen Schriftstellers aus dem Nachlass herausgegeben worden. „Figurenstehen. Eine Legende“ heißt die von Grass im Jahr 2003 verfasste Erzählung. Das Fundstück ist eine Sensation – auch deshalb, weil es in einem Werk beispielhaft die Leidenschaften des Künstlers zusammenführt, der eben nicht nur ein Schriftsteller, sondern auch ein Bildhauer und Grafiker war.
Geboten wird ein historischer Wirbel um die Stifterfiguren, die berühmte Uta allen voran, und ihren Urheber, den mythischen „Naumburger Meister“. Prosa von 69 Seiten, mit Grafiken, die Grass wie stets dazu gefertigt hat.
Irgendwie kleinwüchsig
Für Sachsen-Anhalt ist das Werk ein Geschenk: Die Domstifter, die gerade den Triegel-Altar aus dem Westchor ins Exil nach Paderborn schickten, und die Staatskanzlei dürfen eine Kerze des Dankes anzünden, denn eine bessere Werbung für das Welterbe Naumburger Dom lässt sich kaum denken.
Dabei war Grass vom ersten Anblick der Stifterfiguren enttäuscht „angesichts der Kleinwüchsigkeit der, laut Bildbandbeschreibung, lebensgroßen Stifterfiguren“. Lebensgroß sind sie tatsächlich, aber vom Zuschauer in die Höhe entrückt. Figuren, in die schon viel zu viel hineingedeutet wurde, meint der Erzähler: „Romantik, Heilserwartung und viel völkischer Unsinn während der Nazizeit“. Grass macht sich seinen eigenen Reim. Ihn interessiert nicht der religiöse, sondern der weltliche Gehalt der Gestalten. Figuren, die vom 13. Jahrhundert aus über kriegerische Zeitläufte blicken. Vor allem die kühle Uta fesselt das Interesse, ihr Blick von „eher abweisender Qualität“. Was sieht sie? Was nimmt sie wahr? Für den Dichter Anlass für eine „folgenreiche Spekulation“.
Zurück im Westen, gehen dem Schreiber die Figuren nach, die er zu einem imaginierten Mittagessen herbeiruft. Nicht die historischen Gestalten lädt er ein, sondern jene Menschen, die ihnen Modell gestanden haben sollen. So sammeln sie sich am Tisch des Dichters zu Kartoffeln und Quark.
Auch der Naumburger Meister ist dabei, den die „Überproduktion von Madonnen und Heiligen“ plagt. Uta entpuppt sich als Tochter eines mittelalterlichen Naumburger Goldschmiedes, die bei Tisch nach Cola verlangt. Viel Zeit hat sie nicht. Sie muss „Figurenstehen“. Das heißt, sie geht jenem Kleinkunstgewerbe nach, in denen Menschen vor historischer Kulisse historische Gestalten für Touristen nachstellen, die ihr Kleingeld im Vorbeigehen geben.
Uta ist immer im Dienst
Hier nimmt das Geschehen seinen Lauf. Wohin auch der Erzähler reist, die durch die Zeiten wandernde Uta ist immer schon da. Nach dem Mauerfall steht sie vor dem Kölner Dom, dann in Mailand, nach der Jahrtausendwende vor der Deutschen Bank in Frankfurt am Main. Nunmehr tritt Uta als Heilige Elisabeth auf – als parteiferne Fürsorgerin. Die Naumburgerin: Was will sie? Wie lebt sie? Mehrfach versucht der Erzähler, der mit dem Autor identisch ist, Kontakt aufzunehmen. Endlich kommt es zu einem Treffen – und einem Showdown.
Eine „Legende“, eine „Spekulation“, aber keine wilde Schnurre. Für Grass ist die ewige Uta nicht einfach eine rätselhafte Schöne, sondern das, was für den Kulturphilosophen Walter Benjamin um 1940 der von Paul Klee gezeichnete Angelus Novus war: ein Engel der Geschichte, vor dessen Blick sich „unablässig Trümmer auf Trümmer“ häufen. Doch anders als bei Benjamin schaut die Figur der Uta nicht zurück, sondern von ihrem historischen Standort aus überall hin, um „über hochgeschlagenem Mantelkragen alles bedrohlich Gegenwärtige, vergangene Schrecknisse und entsetzliches Zukünftiges zu sehen.“
Wo blickt sie hin?
Eine Erzählung, die im Kleinen noch einmal den großen Grass zeigt: seine Geschichtsbesessenheit, seine Weltlichkeit, seinen Sinn für das Sinnfällige und Soziale, sein Vergnügen an irrwitzigen Wendungen. An einigen Stellen ist das Erzählte etwas zu schnell am Ziel, aber aufs Ganze ist das alles so schlüssig wie eben Phantastisches schlüssig sein kann.
Am Ende, nachdem ihm die leibhaftige Uta endgültig aus dem Blick geriet, blickt der Erzähler noch einmal zurück. „Wo mag sie sein? Manchmal stelle ich sie mir vor: in endloser Weite, unbewegt stehend und in eine Pferdedecke gewickelt.“ Fast eine Barlach-, fast eine Kollwitz-Figur. Mit seiner Uta schafft Grass eine Frauengestalt zwischen den Kriegen: „Ihr Blick ist auf nichts gerichtet.“
Günter Grass: Figurenstehen. Eine Legende. Steidl Verlag, 72 Seiten, mit Abbildungen, 18 Euro
