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Bestsellerautoren im Literaturhaus Halle Buchvorstellung „Evolution der Gewalt“: Keine Kinder Kains

Sind Kriege unvermeidlich? Drei Wissenschaftler halten dagegen. Harald Meller, Kai Michel und Carel van Schaik stellen im Literaturhaus Halle ihr Buch „Evolution der Gewalt“ vor.

Von Christian Eger 01.11.2024, 18:00
Harald Meller, Carel van Schaik und Kai Michel im Literaturhaus Halle  (von links)
Harald Meller, Carel van Schaik und Kai Michel im Literaturhaus Halle (von links) (Foto: Steffen Schellhorn)

HALLE/MZ. - Drei Freunde, ein Gedanke: So soll es gewesen sein. Am Rande einer Frankfurter Buchmesse saßen vor einigen Jahren zusammen: der hallesche Landesarchäologe Harald Meller, der Hamburger Historiker Kai Michel und der aus Holland stammende Schweizer Evolutionsbiologe Carel van Schaik. Drei Wissenschaftler, die jeweils Bestseller veröffentlicht hatten. Nun einmal ein Buch gemeinsam zu verfassen, das war die Idee. Aber worüber? „Wir müssen ein Buch über den Krieg machen“, schlugen Meller und van Schaik vor. Bloß das nicht, erwiderte Michel. Das sei doch nur ein Thema für alte Leute.

Ein Irrtum. Jahre nach dem Treffen ist der Krieg für Westeuropa keine Erinnerung mehr, sondern Gegenwart. Und das Buch, das Meller, Michel und van Schaik dann doch veröffentlichten, ist viel beachtet, aktuell nominiert für den Bayerischen Buchpreis. „Die Evolution der Gewalt. Warum wir Frieden wollen, aber Kriege führen“ heißt das zu sechs Händen verfasste Werk. Untertitel: „Eine Menschheitsgeschichte“.

Der große Saal des Literaturhauses Halle ist randvoll gefüllt, als die drei Autoren sich am Dienstagabend den Fragen des Literaturhaus-Chefs Alexander Suckel stellen. Ein Abend, der bei aller Unterhaltsamkeit immer wieder Momente von konzentrierter Stille erzeugt. Das liegt am Thema, an der Gegenwart, aber auch an der engagierten Machart des Buches.

99 Prozent Frieden

Das erörtert aus drei verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven den Befund, dass Krieg weder eine behauptete selbstverständliche Essenz des menschlichen Wesens noch eine unentrinnbare kulturelle Notwendigkeit sei. Aufs Ganze der überschaubaren Menschheitsgeschichte gesehen, bestimmte der Krieg lediglich ein Prozent des Geschehens. Und letzteres bezogen auf die jüngsten 5.000 Jahre. Die Jahrhunderttausende zuvor habe es zwar Konfrontationen, Konflikte, Aggressionen, Gewalt gegeben, aber nie das: Krieg, also gezielt beförderte kollektive Gewalt gegen andere.

99 Prozent Frieden. Macht dieses Wissen gelassener? „Nein“, sagt Harald Meller, „das macht wütender.“ Warum? „Weil zu sehen ist, wie es anders sein könnte.“ Das andere: Friedliche Nachbarschaft sei als „Ressource“ geschätzt worden, sagt Carel van Schlaik. Es gab Koalitionen, Koexistenzen, aber nie das: organisierte „blinde Gewalt“. Keinen „Triebstau“, der sich aggressiv entfalten müsste. Die Behauptung einer „genetischen“ Anlage zum Krieg sei Unsinn.

Die werde von aus Kriegen geborenen Regimes behauptet, die den Krieg zur Festigung ihrer Herrschaft benötigen, sagt Kai Michel. Dass dieses Narrativ so verbreitet sei, liege an dem Umstand, dass es allein die kriegerischen Ordnungen der vergangenen 5.000 Jahre sind, die schriftliche Zeugnisse hinterlassen haben, über die sich die Forscher beugen.

In diesem Maße populär ist die Rede vom Krieg als Vater aller Dinge, vom biblischen Brudermord, den Kain an Abel beging, davon, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei. Aussagen von Menschen, die vom Krieg geprägt worden waren. Aber die Menschen seien „Keine Kinder Kains“, heißt ein Kapitel des Buches. Schon die Rede vom Menschen als Wolf sei eine Manipulation, sagt Kai Michel. Er nennt die stets unvollständig zitierte Quelle dieser Aussage – den römischen Schriftsteller Plautus: „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, so lange er den Anderen nicht kennt.“

Die Anderen, das sind hier die Vorfahren, die selten im Blick der Gegenwart sind. Schimpansen und Bonobos – Meller: friedliche „Hippie Apes“ –, Jäger und Sammler. Gibt es eine Tötungshemmung? Noch nicht bei den Affen, nicht bei den Jägern und Sammlern, sagt Carel van Schaik. Sie tauchte auf, als die eigenen Kinder als Ressource begriffen wurden.

„Weiß ist ein Degenerationsmerkmal“

Ein Abend, um Vorurteile abzuräumen. Also: Weder ist der Mensch ein kriegerisches Wesen. Noch gibt es, sagt Harald Meller, menschliche „Rassen“. „Alle homo sapiens sind sapiens“, also vernunftbegabt. Den weißhäutigen Menschen gäbe es erst seit wenigen tausend Jahren, sagt er, eine Folge der sich verändernden Umwelt und Ernährung. „Weiß ist ein Degenerationsmerkmal“, pointiert der Archäologe. „Was sie bei Olympischen Spielen bei Laufentscheidungen sehen können.“

Woher kommt, was treibt den Krieg voran? Im Befund der Wissenschaftler: Despotie, Ausbeutung der Frau, organisierte Entsolidarisierung, nicht Armut, sondern die große Schere zwischen Armut und Reichtum – und Ideologien. „Im Grunde muss man die Ideologien bekämpfen“, sagt Meller.

Und deren unkritische Anerkennung. Die von Studiosus-Touristen bestaunten altägyptischen Riesenbauten etwa seien steinerne Zeugnisse von „Horror-Diktaturen“, sagt Meller. „Frauenraub als Geschäftsgrundlage“, das sei das Grundmuster klassischer antiker Texte. „Die Ethnographie hat längst gezeigt, dass es viele friedliche Völker gab. Das aber wird weggeschwiegen“, sagt Carel van Schaik. Es gehe um „Diskurs-Hygiene“. Und um Hoffnung, auch wenn die Autoren vordergründig keine Politik treiben wollen.

Zu optimistisch?

Von einem beispielhaften „Jäger und Sammler-Ethos“ ist die Rede, was an manchen Stellen dann doch etwas sehr belletristisch klingt. Skeptiker gibt es auch unter den Zuhörern in Halle. Ist das nicht alles zu optimistisch gedeutet?, wird gefragt. Im Falle eines Atomschlages etwa, was ist dann? Hier sind die Wissenschaftler wieder ganz Wissenschaftler. „Selbst für den Fall, dass tatsächlich etwas schief geht“, behauptet Carel van Schaik, „die Menschen werden nie vollständig aussterben.“

Harald Meller, Kai Michel, Carel van Schaik: Die Evolution der Gewalt. dtv Verlag, 368 Seiten, 28 Euro. Kai Michel ist am 8.11. um 20 Uhr Gast im Salon Suckel im Literaturhaus Halle.