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Krimi-Experiment  Krimi-Experiment : Acht Mörder sollt ihr sein

Von Peter Godazgar 07.09.2013, 09:53
Mörderspiel
Mörderspiel Illustrationen/Anke Krakow Lizenz

Halle/MZ - Am Anfang war die Schnapsidee. Und die ging so: Man müsste sich mal mit ein paar Leuten einschließen, irgendwo, in einem großen Haus, und einen Krimi schreiben, ganz schnell, in einer Woche oder so. - Es gibt Menschen, die vergessen solche Schnapsideen schnell wieder. Und es gibt Ralf Kramp. Der ist nicht nur ein Autor von größtem Witz, sondern auch ein begnadeter Karikaturist (unter anderem für den Kölner Stadt-Anzeiger). Verleger ist er außerdem: Als Chef des KBV-Verlags hat er im rheinland-pfälzischen Eifelstädtchen Hillesheim (nicht Hildesheim!) mit seiner Ehefrau einen wahren Krimi-Kosmos geschaffen - inklusive Krimi-Archiv, Buchhandlung und Krimi-Café. Kramp entschied: Die Schnapsidee, die wird jetzt umgesetzt.

Schnell fand der 49-Jährige seine Protagonisten, sieben Krimi-Kollegen, die sich auf das Experiment einlassen wollten: Kathrin Heinrichs, Tatjana Kruse, Sandra Lüpkes und Sabine Trinkaus sowie Carsten Sebastian Henn, Jürgen Kehrer - und mich. Wir kennen uns alle über die Krimi-Autorengruppe „Das Syndikat“.

Fehlte noch ein abgelegener Ort. Die Wahl fiel auf die „Villa Radekow“, ein Feriendomizil am äußersten Zipfel Brandenburgs, einen Steinwurf von Stettin entfernt, ein Internet-Fund. Die Beschreibung auf der Homepage des polnischen Besitzers verbreitete schon mal große Vorfreude: „Oase der Stille und Ruhe Wir laden herzlich ein in die Denkmal geschützte Villa Radekow, die in dem zauberhaften Dorf auf der deutsch-polnischen Grenze liegt“. Und: „Zu den zauberhaften Innenräumen, die von einem schönen alten Park mit Rundgang umgeben sind, wo Privatatmosphäre, Relaxen und Stille einzigartig wie sonst nirgendwo sind.“ Internet gibt’s dort nicht, dafür sieben Doppelzimmer mit Bad. Die reichen für acht Autoren, denn Sandra Lüpkes und Jürgen Kehrer sind verheiratet. Perfekt.

Und dann sitzen wir also an einem Sonntagabend im August erstmals im Kaminzimmer dieser Villa, mit Laptop oder Notizblock. Sonst haben wir - nichts. So war es geplant: Niemand sollte sich im Vorfeld Gedanken machen. Klar ist nur: Wir müssen an diesem ersten Abend eine Grundidee finden, mit der wir arbeiten können, denn die acht Tage sind ja eigentlich nur sechs, zählt man An- und Abreisetag ab.

Los also, Brainstorming: Da kommt natürlich sehr schnell sehr viel zusammen, wenn acht Menschen zusammensitzen, von denen sich die meisten nicht nur neben-, sondern hauptberuflich mörderische Gedanken machen. Die naheliegendste Idee wird allerdings gleich verworfen: Ja, die Villa als Haupthandlungsort, das wäre einfach zu schreiben; acht Leute (gleich acht Perspektiven) fahren hin, irgend jemand kommt zu Tode, dann noch jemand und am Ende bleibt einer übrig. Oder so ähnlich.

Aber nein, zu naheliegend. Also doch ein klassischer „Wer war’s gewesen“-Krimi? Klar ist: Die Acht muss eine entscheidende Rolle spielen, sie prangt schließlich bereits groß auf dem Buchcover (tatsächlich konnte man das Buch bereits bestellen, bevor auch nur eine Zeile geschrieben war). Ideen schießen durch den Raum, und wir erkennen: Wir müssen für die Geschichte eine Form finden, die es erlaubt, parallel zu schreiben. Wir müssen eine Handlung finden, die wir bis zum Ende festlegen, „durchplotten“ können, um voranzukommen. Am Ende, es ist weit nach Mitternacht, haben wir uns für eine klassische Krimi-Konstruktion entschieden: für eine unbedarfte Hauptperson nämlich, der mysteriöse Dinge widerfahren.

Am nächsten Morgen nach dem Frühstück wird weitergesponnen. Die Geschichte nimmt Konturen an. Die Hauptfigur ist zum Radiomoderator mutiert. Der Moderator findet ein Handy und wenig später die erste Leiche. Bis er merken wird, welche Rolle er selbst in diesem Spiel spielt, dauert es freilich.

Bleibt noch, die Perspektive festzulegen, dann fangen Carsten Sebastian Henn und ich an, die ersten Szenen mit dem Moderator zu schreiben, einem schnoddrigen Typen, dessen Haupteigenschaft darin besteht, Fünfe gerade sein zu lassen. Nach dem Abendessen beginnt die erste Vorlesestunde. Und siehe da: Die Figur wird plastisch, bekommt Tiefe.

Sorgen, das Projekt könnte scheitern, hat übrigens keiner von uns - oder ist das nur das berühmte Pfeifen im Walde? Nein, ich jedenfalls zweifle wirklich nicht. Tatsächlich werfen die allabendlichen Lese- und Entwicklungsrunden zahllose regelrechte Glücksmomente ab angesichts der geballten Kreativität, der konstruktiven Arbeit und des Willens, gemeinsam eine Story zu erfinden, die stimmig, originell und natürlich auch spannend ist. „Ich dachte, es wird ein Hauen und Stechen“, sagt Tatjana Kruse später, aber nein, wir „wurden zu einer echten Gemeinschaft“. Und Carsten Henn staunt: „Es gab viele Diskussionen, aber nie Streit.“

Letzter Schritt eines jeden Abends: Wir addieren die geschriebenen Zeichen - die Durchschnittsrechnung lautet: 1 500 Zeichen ergeben eine Buchseite. Am ersten Abend haben wir 17 Seiten, am zweiten Abend - tagsüber haben nun alle acht an diversen Szenen geschrieben - sind es schon 81.

„Ich hätte nicht gedacht, dass acht Individualisten so diszipliniert zusammenarbeiten können“, sagt Jürgen Kehrer, Autor aus Münster, der sich mit seinen auch fürs ZDF verfilmten Wilsberg-Krimis eine große Fangemeinde erschrieben hat. Tatsächlich gibt es keinen Moment der Prokrastination in diesen acht Tagen - ist es womöglich gerade der knappe Zeitrahmen, der uns antreibt?

Die meisten Kollegen haben schnell feste Schreibplätze, das schöne Wetter treibt viele von uns nach draußen in den großen Garten: Jürgen Kehrer hockt mit Pfeife in einem Holzpavillon neben der Villa. Sabine Trinkaus mit Gartentisch und Stuhl auf dem Rasen, immer der Sonne nach. Kathrin Heinrichs, Ralf Kramp und auch ich dagegen verziehen uns zum Schreiben auf unsere Zimmer. Carsten Sebastian Henn (der auch für den Kölner Stadt-Anzeiger Restaurantkritiken verfasst) scheint überall schreiben zu können; mal sitzt er im Kaminzimmer, mal im Esszimmer - und zwischendurch kümmert er sich um einen kleinen, ebenso mageren wie zutraulichen Kater, der seit unserer Ankunft um die Villa streift.

Eine Kollegin indes hat ein besonderes Ritual: Tatjana Kruse schreibt ausschließlich im Schneidersitz auf ihrem Bett. Auf den Ohren: dicke Gehörschützer. Dabei hört man ohnehin kaum etwas tagsüber. Höchstens aus der Küche, wo wir uns ab und zu über den Weg laufen auf der Suche nach Nervennahrung oder irgendwas anderem Essbaren. Abends wird dann gemeinsam gekocht.

Am vierten Abend haben wir schon 122 Seiten. Je weiter die Handlung fortschreitet umso häufiger merken wir: Die Tücke liegt im Detail. Viele Köche verderben den Brei? Auf uns trifft das Sprichwort nicht zu. Das wird gerade bei nicht zueinander passenden Szenen-Anschlüssen deutlich: Wo einer allein sonst tagelang über den Fortgang der Handlung grübelt oder darüber, wie ein Widerspruch aufzulösen ist, findet bei acht Autoren immer einer eine Lösung.

Doch die Zeit, sie rast. Die Handlung ist komplex, die Zahl der Toten steigt, der Abstimmungsbedarf auch. Wir fragen uns: Erkennt der Leser die verschiedenen Schreibstile? Ergeben sich dadurch Brüche? Ist die Gesamtkomposition stimmig? An keinem Abend endet die Diskussion vor Mitternacht. Nur einmal gönnen wir uns so was wie Freizeit: Am dritten Tag machen sieben von uns einen Ausflug nach Stettin (Kathrin Heinrichs will lieber weiterschreiben). Vier Stunden nur, in denen natürlich auch immer wieder das Schicksal unseres Helden beratschlagt wird.

Dann ist Samstag, der letzte Abend. Carsten Henn liest die letzten Zeilen des Epilogs um kurz vor 1 Uhr nachts. Und wir erkennen: Unser Manuskript ist fertig. Es hat 273 Seiten. Wir haben es tatsächlich geschafft! Wir köpfen eine Flasche Champagner, die einzige, die es in einem winzigen Discounter im Nachbarort zu kaufen gab. Sind wir zufrieden? Und ob! „Der Roman hat Tiefe, ist in sich logisch und natürlich richtig spannend geworden“, sagt Sandra Lüpkes. „Darauf können wir stolz sein.“

Ganz fertig sind wir freilich noch nicht. Ein Lektor wird das Buch noch mal unter die Lupe nehmen. Wir acht werden es natürlich auch noch mal lesen. Fest steht aber: Die Acht erscheint Mitte Oktober zur Frankfurter Buchmesse. Todsicher.

Peter Godazgar, Kathrin Heinrichs, Carsten Sebastian Henn, Jürgen Kehrer, Ralf Kramp, Tatjana Kruse, Sandra Lüpkes, Sabine Trinkaus: Acht. ca. 280 Seiten. KBV-Verlag, 9,90 Euro. Auf der Internet-Plattform YouTube gibt es ein kleines Tagebuch der acht Tage.

Mörderspiel
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Katze
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Kriminalroman
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