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Jürgen Pahl Jürgen Pahl: Ex-HFC-Torwart lebt jetzt in Paraguay

Von gunnar Leue 05.04.2013, 16:56
Jürgen Pahl mit Gästen aus Sachsen-Anhalt (links), die ihn auf seinem Anwesen in Paraguy besuchten.
Jürgen Pahl mit Gästen aus Sachsen-Anhalt (links), die ihn auf seinem Anwesen in Paraguy besuchten. Privat Lizenz

Villarica/MZ - Die Obstbäume, ach ja“, sagt Jürgen Pahl hinterm Lenkrad seines Bullis und schaut auf die mickrigen Bäume am Straßenrand. Kurz darauf biegt er in eine unbefestigte Einfahrt zu seinem Grundstück ab. Es liegt an einer Überlandstraße im Departamento Guairá, einer Provinz im Landesinneren von Paraguay. Das Anwesen ist nicht sehr groß und fast naturbelassen. Immergrüne Sträucher, kniehohe Schraubenbäume und dürre Urwaldbäume stehen rings um ein kleines weißes Haus mit Strohdach. Von Obstbäumen ist nichts zu sehen. Dabei heißt es in Deutschland, Jürgen Pahl, der frühere Fußballprofi von Eintracht Frankfurt, lebe als Obstbauer in Paraguay. Vor einigen Jahren, sagt er in unüberhörbar anhaltinischer Sprachfärbung, hätte ihn mal ein Journalist besucht. Damals habe er noch im einige Kilometer entfernten Ort Indepedencia eine Pension geführt, zu der 5 000 Quadratmeter Gartenfläche gehörten. „Da stand ich dann fürs Foto zwischen lauter Obstbäumen und zack, war ich der Obstbauer.“

Von dieser Berufskarriere weiß die kleine Runde im Imbisshäuschen in Villarica, einer kleinen, wenig aufregenden Universitätsstadt, nichts. Hier ist er nicht der Obstbauer, sondern der Jürgen, der auch aus Deutschland stammt. Wie sich im Gespräch herausstellt, sind zufälligerweise alle in der Runde gebürtige Sachsen-Anhalter: Anne, ihr alter Jugendfreund Martin, der sie hier in Villarica besucht, Jürgen Pahl und Frank, sein aus der Altmark stammender Besucher. Irgendwann kommt das Gespräch auf Fußball, klar, HFC, FCM, DDR-Oberliga, denn Jürgen Pahl war früher mal Fußballer.

Erst in der Oberliga, wo er für den Halleschen FC Chemie ein Dutzend Spiele als Torwart absolvierte, dann in der Bundesliga, wo er zwischen 1978 und 1987 für Eintracht Frankfurt im Tor stand und mit ihr 1980 den Uefa-Cup gewann. Jürgen Pahl und sein Kumpel Norbert Nachtweih, der ebenfalls in Frankfurt spielte und danach noch mit Bayern München Titel gewann, waren die ersten DDR-Fußballer, denen nach der so genannten „Republikflucht“ eine erfolgreiche Karriere in der Bundesliga gelang.

Nach dem Ende ihrer Karriere verschwanden beide aus dem Rampenlicht. Norbert Nachtweih ist heute Trainer des JFC Frankfurt und für die Eintracht-Fußballschule tätig. Zu Jürgen Pahl hat er heute kaum noch Kontakt.

Aus seinem Häuschen holt dieser ein abgewetztes Fotoalbum. Die alten Bilder zeigen ihn als Jugendfußballer, als Bundesliga-Profi beim Training, bei Spielen und Feiern. Als fröhliches Mitglied eben jener miefig verlogenen Fußballgesellschaft, zu der auch er früher gehörte. „Was soll’s, alles kommt, wie es kommt“, sagt Jürgen Pahl und erzählt von den vielen Richtungswechseln in seinem Leben. Beim ersten war er 20 Jahre alt und Torhüter der DDR-Nachwuchsauswahl, als er sich gemeinsam mit Norbert Nachtweih in Richtung Westen absetzte.

Eigentlich sei er gar kein DDR-Gegner gewesen, erzählt der 56-Jährige. Doch da waren „diese kleinen Mittelchen“, die sie in der Kinder- und Jugendsportschule in Halle nehmen sollten. Dazu das Kontrastprogramm, das der aus Teuchern stammende Jungfußballer bei den Reisen mit der Juniorenauswahl in den Westen erlebte. In Monte Carlo ging er mit seinen 20 D-Mark Taschengeld in ein Casino, das er mit zehnfachem Gewinn wieder verließ. „Irgendwann fragte ich mich, was mir wohl nach zehn Jahren Fußball in der DDR blüht? Ganz klar: richtig arbeiten müssen, nicht unabhängig sein und vielleicht sogar mit 27 noch zur Armee. Im Westen würde ich vielleicht gar nicht arbeiten müssen, wenn ich genug verdiene.“

Eine verlockende Aussicht, der er eine Chance geben wollte. Kommen sollte sie bei einem Länderturnier in Österreich. „Eigentlich wollten wir zu dritt abhauen. Als wir aber drei Monate früher ein Länderspiel in Bursa hatten, habe ich zu Norbert Nachtweih und Burkhardt Pingel gesagt: So, jetzt geh ich!“ Im Hotel hatte er einen Amerikaner kennen gelernt, der einen Kontakt zur US-Botschaft machte. Während der Rest des DDR-Teams einen Basar besuchte, fuhren die drei Hallenser nach Istanbul zum vereinbarten Treffpunkt. Burkhard Pingel überlegte es sich letztlich anders. Für seine Freunde begann eine achttägige Odyssee via US-Botschaft, BRD-Botschaft, türkischer Geheimdienst und konspirativer Wohnung. Nach der Ausreise und einem Aufenthalt beim BND in Pullach ging es ins Aufnahmelager Gießen.

In den Zeitungen sahen sich Jürgen Pahl und Norbert Nachtweih als Helden gefeiert, als die ersten geflohenen DDR-Auswahlfußballer. Ein Spielervermittler von Hertha BSC fragte an, aber ins von der DDR umzingelte Westberlin wollten sie nicht. Stattdessen gingen sie nach Frankfurt/Main, wo sie nach Ablauf der 16-monatigen Sperre im Frühjahr 1978 endlich ihre Bundesligakarriere starten konnten. Die Träume vom Westen wurden Realität.

Vom Mauerfall erfuhr der Anhaltiner – der seine Laufbahn beim türkischen Klub Rizespor ausklingen ließ - in einem Hotel in Istanbul, wo er fast genau 13 Jahre zuvor mit seinem Kumpel geflohen war. Trotzdem habe er in der Vergangenheit oft darüber nachgedacht, ob die Fluchtentscheidung richtig war. „Sie war es“, sagt er, mehr zu sich selbst, „trotz aller Widrigkeiten. Ich habe die Welt kennen gelernt und tausende Menschen. Meine Erfahrungen von heute hätte ich sonst nicht.“

Zu denen gehört auch seine Zeit nach der Wende. Jürgen Pahl hatte sein Elternhaus gekauft und in Weißenfels eine Fensterbaufirma gegründet. Lange lief die gut, aber nicht ewig. Warum er überhaupt wieder in den Osten ging? „Tja.“ Falten legen sich auf seine Stirn. „Das war wahrscheinlich ein Fehler.“

1995 stieg er aus dem Fensterbaugeschäft aus. Ausgebrannt. Statt es mit medizinischer Hilfe zu versuchen, wollte er ein halbes Jahr aussteigen, zum Regenerieren. Ein Brasilianer nahm ihn mit nach Paraguay. Dort gefiel es ihm auf Anhieb so gut, dass er seine Zelte in Deutschland ganz abbrach. Er mag die einfachen Leute, zu denen er sich selbst zählt. „Ich bin ein Pioniertyp, ein Conquistador, wie man hier sagt.“ Jürgen Pahl findet es gut, dass man in einem Land wie Paraguay nicht alles durchplanen kann und mit Überraschungen leben muss.

Er betrieb ein Lokal, dann eine Pension, nebenbei leitete er eine Fußballschule. Außerdem trainierte er den Verein Deportivo Independencia, mit dem er von 2001 bis 2006 viermal Meister der Mennoniten-Liga wurde. Momentan führt er ein kleines Restaurant und hat eine kleine Fußball-Akademie gegründet, die sportlich und sozial ausgerichtet sein soll.

Die 50. Saison der Bundesliga verfolgt Jürgen Pahl via Internet. Das Jubiläum und die flankierenden Anekdoten interessieren ihn weniger. An eine aber kann auch er sich bestens erinnern. Das (vom Fernsehen nie aufgezeichnete) so genannte Jahrhundert-Eigentor. Auf beeindruckend skurrile Weise hatte sich ein Torwart im Bundesligaspiel gegen Bremen am 4. Dezember 1982 den Ball selbst ins Netz geworfen. „War ein blödes Ding“, sagt Jürgen Pahl und lächelt milde. Der Torwart war er.

Jürgen Pahl (rechts) mit Norbert Nachtweih während eines Trainings bei Eintracht Frankfurt Ende der 70er Jahre.
Jürgen Pahl (rechts) mit Norbert Nachtweih während eines Trainings bei Eintracht Frankfurt Ende der 70er Jahre.
Privat Lizenz