Halles Paulusvierte Halles Paulusvierte: Gründerzeit in Rot und Grau

Halle (Saale)/MZ - Peter Breitkopf ist stark interessiert an Stadt- und Baugeschichte. Schon von Berufs wegen - der Mann ist Bauingenieur. Aber auch privat - in seiner Freizeit engagiert Breitkopf, 52, sich im Arbeitskreis Innenstadt, der sich um Halles alten Baubestand verdient macht. Geht es um das Paulusviertel, den grünen Gründerzeit-Stadtteil im Norden Halles, ist er also der richtige Mann. Zumal er selbst dort wohnt.
Nur die Sache mit den Dächern, die ist ihm bisher auch noch nicht aufgefallen. Wobei man fairerweise sagen muss: Kann ja auch gar nicht.
Das mit den Dächern sieht man nämlich erst von oben - dass sie in einem Ring rund um den Rathenauplatz - das Zentrum des Viertels mit der mittlerweile 111 Jahre alten Pauluskirche - alle rot sind. Und außerhalb dieses Rings, jenseits der heutigen Schleiermacherstraße, alle grau. Wie das?
Die Antwort ist einfach, wenn man sie kennt: „Grau“, sagt Breitkopf, „das sind die Pultdächer mit Teerpappe. Und Rot, das sind die mit Ziegeln gedeckten Satteldächer.“ So erzählt eine Luftaufnahme Baugeschichte: Das Paulusviertel nämlich wurde von außen nach innen errichtet, auf die Kirche zu. Und irgendwann änderten sich die Bauvorschriften: Es durfte höher gebaut werden, erzählt Breitkopf. Damit kamen die Satteldächer.
Angeblich sollen die so gedeckten Häuser innerhalb des Rings für höhere Schichten errichtet worden sein, die Gebäude jenseits davon dagegen für niedere Beamte und Angestellte. „Eine Vermutung“, sagt Breitkopf. Dass beim Bau des Paulusviertels verschiedene Bevölkerungsschichten berücksichtigt wurden, zeige sich aber auch an anderer Stelle: Es gebe Straßen mit Vorgärten, und solche ohne. Beim Spaziergang hat Breitkopf in der Lessingstraße sogar einmal zwei Hinterhöfe entdeckt, mit kleinen Häusern, die ursprünglich vermutlich für Handwerker oder Arbeiter gedacht waren. „Das ist selten in Halle.“
Der Anschluss an das Eisenbahnnetz 1840 gab Halles Wirtschaft einen Schub: Braunkohle, Maschinenbau, Leichtindustrie - wie andere Industriestädte auch wuchs Halle in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rasant. Mit dem Paulusviertel sollte ein repräsentativer neuer Stadtteil für Professoren, Beamte und Angestellte geschaffen werden. Damit, so schreibt es der Bürgerverein Paulusviertel, habe Halle seinen Anspruch unterstreichen wollen, eine der bedeutendsten preußischen Städte zu sein.
Die Kaiserin kam zur Kirchweihe
Was Wilhelm Zwo im fernen Berlin davon hielt, weiß man nicht. Jedenfalls schickte der Kaiser 1903 seine Gemahlin, Kaiserin Auguste Victoria, zur Weihe der Pauluskirche. Eine große Ehre: Das Volk, im feinen Sonntagsstaat, stand eigens Spalier am Aufgang zur Kirche an jenem 6. September vor 111 Jahren, einem schönen Spätsommertag. Doch ihre Majestät, so ist es überliefert, scheute das Bad in der Menge und fuhr in der Kutsche direkt bis vor das Hauptportal. Ob Kinder den Hasenberg, so heißt die das Gotteshaus tragende Erhebung, schon damals im Winter zum Rodeln nutzten? Wohl eher nicht, denn das Viertel selbst war da noch gar nicht vollständig. Vielmehr stand die Kirche allein auf weiter Flur. Das Straßennetz existierte zwar schon, doch die inneren Straßen waren noch nicht bebaut. „Damit hat man erst 1910 begonnen“, sagt Breitkopf.
Warum die ersten Häuser im Paulusviertel bereits 1900 wieder abgerissen wurden, erfahren Sie auf Seite 2.
Repräsentativ also sollte das Paulusviertel sein. Repräsentativ und mit System wurde es auch angelegt - ein ringförmiger Platz, damals der Kaiser-, heute der Rathenauplatz, rund um die Kirche, von dem wie Strahlen acht Straßen ausgehen. Von oben sehen die Straßen aus wie ein Spinnennetz. Beim Rundgang durchs Quartier bekommt man von der systematischen Anlage nicht so viel mit, dafür kann man sich prima verlaufen. Nur gut, dass es die Kirche als Fixpunkt gibt.
Ob sich der Stadtbaurat Karl-Otto Lohausen, der den 1882 bestätigten Bebauungsplan entworfen hatte, an Vorbildern andernorts orientierte, ist nicht überliefert. Vielleicht aber hat Lohausen mal einen Blick nach Karlsruhe riskiert. Dort habe man das Areal rund um Schloss und Schlossgarten schon 200 Jahre früher nach einem ähnlichen Muster angelegt, erzählt Halles Stadtarchivar Ralf Jacob.
Felder, eine Pferdeabdeckerei, eine Teerfabrik - mehr gab es nicht Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem Gebiet des späteren neuen Stadtquartiers. Allmählich wurden die ersten niedrigen Häuser gebaut, um schon um 1900 wieder abgerissen zu werden, zugunsten der Bebauung nach Lohausens Plan. Dann ging es Schlag auf Schlag: Bis etwa zur Mitte des Ersten Weltkriegs wurde rasant gebaut in Halles Norden, „dann“, sagt Peter Breitkopf vom Arbeitskreis Innenstadt, „war das Paulusviertel im wesentlichen fertig“. In den 20er und 30er Jahren wurde hier und da erweitert.
Abrisspläne in der Schublade
Auch in der DDR entstand am Rand des Stadtteils noch der eine oder andere Wohnblock - während in den Gründerzeitbauten zugleich der Verfall einsetzte. Etliche Häuser waren in der Hand der damaligen Kommunalen Wohnungsverwaltung, doch für Reparaturen und Sanierungsarbeiten fehlte das Geld. Für einen Teil des Viertels lagen in den 1980er Jahren bereits Abrisspläne in der Schublade. Wie auch in anderen Städten verhinderte wohl nur die Wende deren Umsetzung.
Heute ist das Paulusviertel fast komplett saniert. Seine Anziehungskraft hat es längst zurückgewonnen. Rund 12 200 Menschen leben dort - eine Kleinstadt in der Großstadt. Darunter sind viele Familien mit Kindern, die das Quartier zu einem der jüngsten in Halle machen, mit einem Altersdurchschnitt von 37 Jahren, gegenüber 45 in Halle. Das Gründerzeitflair, die Nähe zur Innenstadt und viel Grün machen den Reiz des Viertels aus. Auch Peter Breitkopf will nicht mehr weg: „Ich bin hier aufgewachsen und habe mit wenigen Unterbrechungen immer hier gelebt.“
