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Glücksspiel Glücksspiel: Zittern, Zucken, Zocken

Von Steffen Könau 23.03.2007, 12:00

Halle/MZ. - Aber das täuscht. Zusammen am Pokertisch zu sitzen bedeutet die höchste Form von Einsamkeit. Hier ist jeder allein mit sich und den Karten. Mit sich und den Gedanken. Mit sich und der Angst. Die Karten fliegen. Der Mann mit der Knollennase, der weit vorn liegt, steckt sich eine Zigarette an. Das Mädchen in der weißen Bluse trinkt einen Schluck, der Junge neben ihm setzt sich eine große Sonnenbrille auf. Sebastian Kopper lässt seine verbliebenen paar Chips leise klackern.

An einem Mittwochnachmittag hat das Pokerfieber, das seit Wochen in ganz Deutschland grassiert, Dessau erreicht. Draußen strahlt die Sonne, drinnen rascheln die Karten. Um sechs Tische drängeln sich die Spieler, Dealer in schwarzen T-Shirts fordern Einsätze ein, leise flüstert es hier "Call" und dort "Check". Der Mann mit der Knollennase biegt sich nach jedem Geben bis fast ganz unter den Tisch, um sein Blatt von unten anzuschauen. Niemand lächelt, keiner lacht.

Pokern sieht nur aus wie ein Kartenspiel. In Wirklichkeit ist es alles andere: Mathematik. Psychologie. Sport. Abenteuer. Sebastian Kopper ist sich da ganz sicher. "Wenn man weiß, wie es läuft", sagt der 20-Jährige, "dann gibt es nicht viel, was mehr Spaß macht." Kopper muss es wissen, denn er spielt leidenschaftlich gern und "am liebsten Poker". Sitzt Sebastian Kopper am Tisch, fühlt es sich an, als gebe es eine direkte Verbindung von den Karten in seiner Hand zu den Nerven-Enden. "Ein Blick auf mein Blatt", beschreibt der Verkäufer-Azubi, der ganz zufällig im Lottoladen lernt, "und ich sehe, was daraus werden kann."

Heute ist das nicht viel. Während der Knollennasige unter dem Tisch hervorkommt, alle seine Chips in die Mitte schiebt, "All In" sagt und aufsteht, ist Kopper schon wieder draußen. Knollennase deckt lässig einen Drilling auf und reißt die Faust triumphierend in die Luft: "Jackpot, Baby!"

Pokern ist Biochemie. Spannung erzeugt Stress, Stress lässt den Körper Endorphine ausschütten. Endorphine erzeugen einen milden Zustand der Euphorie, ein Glückskribbeln, wie es sonst nur Frischverliebte fühlen. Der Körper eines Gewinners verhält sich wie der Körper eines Mannes, der die Frau seiner Träume zum ersten Mal küsst. Das Hirn eines Verlierers aber sagt seinem Besitzer: Kopf hoch, nach der Runde ist immer vor der nächsten, also los, mach, als nächste küssen wir.

Kristopher Aström kennt dieses Gefühl. "20 000 Dollar hatte ich gewonnen", erzählt er von einem Pokerabend, den er zu Hause vor dem Computer verbrachte, fiebernd vor Begeisterung, gefangen in einer Kartenschlacht mit lauter Unbekannten, die irgendwo weit weg in anderen Ländern vor ihren Computern hockten. 20 000 Dollar sind für einen Musiker aus Schweden eine Stange Geld. Aber dann kam dieses Blatt, unschlagbar eigentlich, fand Aström. Er schob in die Mitte, was er gewonnen hatte. Und verlor natürlich. "Es war ein absolut toller Abend", schwärmt er heute noch.

Von zehn Leuten am Tisch verlieren neun. "Das sind die Heringe", sagt Christian Kaisan, der in seinem ersten Leben Rouletteprofi war und heute vom Pokern lebt. Seit zwei Jahren hat der Leipziger, der mit Kessel und Kugel Millionen verdiente, an keinem Roulettetisch mehr gesessen. Dafür klebt er Nacht für Nacht daheim in seiner Wohnung in der Leipziger Innenstadt am Computer und dirigiert sein virtuelles Spieler-Ich durch Online-Pokerrunden irgendwo in Amerika. Kaisan spielt nicht, er rechnet. Eine Software analysiert in jedem Moment eines jeden Spiels seine Chancen und die der Gegner. So kann der Hai gleichzeitig an mehreren Tischen auf Heringe warten, die sich bereitwillig verspeisen lassen. "Am besten funktioniert das", grinst Kaisan, "wenn die Amis am Wochenende aus der Kneipe kommen und noch schnell ein paar Dollar loswerden wollen." Besser läuft es nur bei denen, die gar nicht mehr mitspielen. Fabio Murolo etwa, der aus Heilbronn stammt und vor einem Jahr auf die Idee kam, statt Poker zu spielen lieber Pokerturniere zu veranstalten. "Poker ist einfach, das versteht jeder", glaubt der Chef der Firma Pokerwelle, der über anderthalb Dutzend Lizenznehmer beinahe täglich Pokerfans zu Turnieren in Kneipen, Discotheken oder Kinos lockt. Mehr als 17 000 feste Mitglieder hat Pokerwelle inzwischen, an Spieltagen erscheinen zwischen 100 und 600 Spielwillige.

Zwar ist Glücksspiel in Deutschland eigentlich verboten, doch wie Pokerwelle verweisen auch die Konkurrenten der Heilbronner darauf, dass bei ihren Veranstaltungen im eigentlichen Sinne nicht um Geld gespielt werde. Für 15 bis 25 Euro Eintritt gibt es stattdessen für jeden Starter gleich viele Spielchips, wer keine mehr hat, muss gehen. Wer aber nach vier, fünf oder auch mal neun Stunden als letzter vom so genannten Final Table aufsteht, erhält Sachpreise wie Notebooks, DVD-Player oder ein Edel-Handy.

Die Behörden stehen dem Phänomen ratlos gegenüber. Vier Millionen Deutsche spielen derzeit mehr oder weniger regelmäßig bei Online-Pokerseiten wie partypoker.de, everestpoker.com oder europoker.net. Und verstoßen damit mehr oder weniger eindeutig gegen deutsches Recht. Allerdings gibt es kaum eine Möglichkeit, zu verhindern, dass deutsche Spieler bei Anbietern aus Gibraltar, Malta oder Zypern zocken. Noch schwieriger ist es, den privaten Pokerrunden beizukommen, die sich längst überall im Land treffen. "Dabei sind das nicht immer nur Kumpels, die um ein paar Cent spielen", erzählt ein Kenner, "da wird richtig Mundpropaganda gemacht und am Ende geht es locker um ein paar Hunderter."

Für Sebastian Ruthenberg sind das kleine Fische, Wasserflöhe geradezu. Der 23-jährige Hamburger, der sich in seinem Spielertagebuch luckbox.de lässig "miamivice" nennt, ist Profi-Pokerspieler. Vor vier Jahren geriet er zufällig auf eine Pokerseite im Internet, die mit Gratisspielen warb. Ruthenberg, von Beruf Informatiker, probierte es, gewann, verlor wieder und fing aus Ärger an, sich ernsthaft mit Pokern zu beschäftigen. Keine schlechte Karriere-Entscheidung: Vor zwei Wochen wurde er beim EPT-Turnier Dritter und durfte 220 000 Euro mit nach Hause nehmen.

Das wäre es so ungefähr, was Sebastian Kopper sich wünschen würde. Seit einem Jahr pokert er und er weiß "dass ich noch nicht da bin, wo man nicht mehr besser werden kann". Manchmal, wenn die Karten günstig kommen, spürt er sich selber vor Aufregung zittern. Dann wieder werden die Hände feucht von Schweiß, obwohl der Raum kein Grad wärmer geworden ist. Oder ein Lid zuckt. Kopper schüttelt den Kopf. "Ist doch klar, dass das die anderen auch mitkriegen", sagt er. Heute allerdings lag es nicht daran, dass es nicht bis ins Finale gereicht hat. "Es gibt so Tage, da liegt es einfach nicht", glaubt Sebastian Kopper.

Immerhin hat er es geschafft, mit seinen paar Chips ziemlich lange durchzuhalten. Das Mädchen mit der weißen Bluse dagegen verspielt seinen Riesenberg Jetons so schnell wie es ihn zusammengewonnen hat. Auch der laute Siegertyp mit der Knollennase verzockt sich und muss gehen. Dann erst ist auch bei Kopper Ebbe in der Kasse. "Hat sich gelohnt", sagt er.