Gedenkfeier zum Mauerfall in Marienborn Gedenkfeier zum Mauerfall in Marienborn: Die erste Ostlerin im Westen

Helmstedt/Marienborn - In der Hauptstadt war mehr Bambule. Aber am 9. November 1989 war es kein Ost-Berliner, der als erster die innerdeutsche Grenze überschritt. Es war Annemarie Reffert. Als in Berlin die Grenzer noch ratlos am Schlagbaum standen, hatte die aus Eckartsberga (Burgenlandkreis) stammende Magdeburger Ärztin 192 Kilometer entfernt schon den Eisernen Vorhang zerrissen und mit ihrer Tochter Juliane die Grenze passiert - in Marienborn (heute Landkreis Börde). Eine kleine, leise Pioniertat der heute 71-jährigen. „Ich wollte nur gucken, ob ich da durchkomme“, erzählt die kleine, unprätentiöse Frau mit dem Kurzhaarschnitt.
So schnörkellos wie sie erzählt, hat Reffert gehandelt. Dreimal hatte sie die Nachrichten von der neuen Reisereglung gehört, dann wollte sie die Probe machen. Die damals 15-jährige Tochter Juliane war sofort dabei. Sie hatte gerade eine Grippe auskuriert. „Mir war furchtbar langweilig, ich habe ein Abenteuer gewittert.“ Je näher Mutter und Tochter der Grenzübergangsstelle Marienborn kamen, desto abenteuerlicher wurde es. „Das erste Herzklopfen bekam ich beim Schild, letzte Wendestelle für DDR-Bürger’“, sagt Mutter Reffert. Sie fuhr weiter - zur eigenen Verwunderung immer weiter. Annemarie Reffert hatte die Zauberformel für den magischen Abend, wie sich die Tochter erinnert: „Meine Mutter trug den Satz ,Schabowski hat gesagt...’ wie ein Mantra vor sich her.“ Und der Satz brachte das Duo durch alle Kontrollen. So erreichten die beiden schließlich den Westen - und auf das Abenteuer folgte: Öde. „Am liebsten wäre ich gleich wieder umgedreht“, sagt Annemarie Reffert. Sie wollte ja nur mal gucken. Sie fürchtete aber von den Grenzern für eine „Provokateurin“ gehalten zu werden. „Also sind wir noch nach Helmstedt reingefahren.“ Die erste Station im gelobten Westen war dann eine Enttäuschung. „Helmstedt war einfach mal total ausgestorben. Da war kein Auto unterwegs.“ Während in Berlin Trabis beklatscht wurden und die Ostdeutschen mit Sekt feierten, kurvten Mutter und Tochter im Wartburg durch die dunkle West-Kleinstadt. Dem daheimgebliebenen Vater wollten sie wenigstens noch ein West-Bier mitbringen, hatten aber kein West-Geld. Juliane Reffert wollte ihr Glück trotzdem in einer Gaststätte versuchen. „Das war so eine verrauchte Spelunke voll mit Truckern, da bin ich lieber gleich wieder raus.“ So fuhren Mutter und Tochter ganz unspektakulär wieder heim in den Osten. Mutter Reffert musste ja am nächsten morgen um sieben zum Dienst.
„Die Weltgeschichte muss umgeschrieben werden, was den Durchbruch angeht. Die eigentliche Revolution hat in der Provinz stattgefunden“, zeigte sich Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) von der Geschichte der Refferts beeindruckt. Mutter und Tochter erzählten ihre Pioniertat am Sonntag in Marienborn, Reste des alten Übergangs mit Wachturm, Kontrollhäuschen und den riesigen Lichtmasten sind heute Gedenkstätte der Deutschen Teilung. Und am Sonntag war sie auch Ort für das „Nachbarschaftsfest“, wie Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) die gemeinsame Feier mit Sachsen-Anhalt nannte. In Marienborn ging es ums Gedenken, in Helmstedt wurde mit einer Festmeile gefeiert. Marienborn schaute sich auch der Magdeburger Rigobert Funke an. Er kam erstmals seit den 90ern wieder her. „Ich sehe das relativ sachlich, es ist ja 25 Jahre her“, meinte der 72-jährige, ehemalige Reichsbahner im Schatten der grauen Sperranlagen. Beruflich habe er in der DDR immer mal die Eisenbahn-Grenzanlagen warten müssen. „Da mussten wir mit Wachposten auch durch die Laufanlagen mit den Hunden. Da war ich jedesmal fix und fertig, wenn ich nach Hause kam.“ Der gestrige Besuch sollte vor allem Geschichtsstunde für die 13-jährigen Enkelin Lena sein. „In der Schule wurde das Thema noch nicht angesprochen, deshalb wollen wir ihr das zeigen.“ Die Schülerin besichtigte den Rest der Grenze mit Staunen: „Dass alle gefangen waren und hier niemand durch konnte - das kann ich mir nicht wirklich vorstellen.“
Wie beim Mauerfall stand die Provinz auch bei der Jubiläumsfeier im Schatten des Berliner Geschehens. Sachsen-Anhalt und Niedersachsen konnten nicht mit einer Lichtergrenze aufwarten, bleiben aber stolz-gelassen. Weil betonte, dass die beiden Länder einst den größten gemeinsamen Teil der Grenze hatten. Und dort mittlerweile auch zusammen gewachsen sei, was zusammen gehöre. „Wir haben jetzt wie selbstverständlich wieder eine gute Nachbarschaft im Grenzgebiet. Es wird sogar wieder hin und her geheiratet“, so Weil. Beide Regierungschefs zeigten sich zufrieden mit dem, was sich seit der Einheit entwickelt hat. Wobei Haseloff einräumte, dass die „Wunden“ der Teilung nicht auf einen Schlag zu schließen seien. Wohl noch unter dem Eindruck eines gemeinsamen Gottesdienstes mit Weil erinnerte er an die Bibel, dass das Volk Israel nach der Befreiung aus Ägypten noch 40 Jahre durch die Wüste ziehen musste. Und die Probleme, die es heute noch gebe, „sind längst nicht so gravierend, wie das, was hinter uns liegt“.
(mz)

