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DDR-Erinnerungen Flucht aus der DDR über die Ostsee: Mario Wächtler schwamm in den Westen

Von Steffen Könau 06.09.2014, 15:09
Mario Wächtler mit den Original-Schwimmflossen, die er bei seiner Flucht durch die Ostsee trug.
Mario Wächtler mit den Original-Schwimmflossen, die er bei seiner Flucht durch die Ostsee trug. Andreas Stedtler Lizenz

Boltenhagen - Mit 24 Jahren beschließt Mario Wächtler, die DDR zu verlassen. Im September 1989 setzt er alles auf eine Karte. Er schleicht bei Boltenhagen ins Meer und schwimmt Richtung Westen nach Schleswig-Holstein. Er ist der letzte DDR-Flüchtling, der über die Ostsee entkommt.

Anfang September, die ganze DDR starrt nach Süden, die einen voller Angst, die anderen hoffnungsfroh. Die Botschaften sind voll in Prag und Warschau, in hellen Scharen strömt das Volk in Ungarn über die längst halboffiziell offene Grenze nach Österreich. Wie lange noch? Furcht, dass bald alles dicht ist. Niemand weiß etwas, viele ahnen, bangen, überlegen in diesen letzten Sommertagen des Jahres 1989.

Was tun? Mario Wächtler hat seine Entscheidung getroffen. Er ist auf dem Weg nach Norden an diesem ersten Samstag im September. Am Steuer des Trabant sitzt sein Bruder, auf der Rückbank dessen Freundin. Die drei sind dabei, eine Straftat zu begehen, zumindest soweit es die DDR-Behörden betrifft: Mario Wächtler, 24 Jahre alt, ausgebildeter Kfz-Mechaniker und als solcher ein Gutverdiener in der DDR-Mangelwirtschaft, ist unterwegs, um Schluss zu machen mit dem Leben in der Arbeiter- und Bauernrepublik, das er als langweilig, gleichförmig und vorausbestimmt empfindet.

„Ich musste einfach was verändern“, sagt er heute, „es gab ja keine Perspektive, keine Zukunft.“ Mario Wächtler ist ausgebildeter Rettungsschwimmer, er glaubt, dass er es schaffen kann, von Boltenhagen im Westen der DDR-Ostseeküste bis hinüber nach Grömitz zu schwimmen.

Mario Wächtler: Erster Fluchtversuch mit 15 Jahren

Mit 15 Jahren hat er schon einmal versucht, einfach mit dem Zug Richtung Westen. Natürlich wird er erwischt, er sitzt eine Nacht in Gotha im Gefängnis, kommt dann für eine Woche in ein Kinderheim. Es folgt eine Anklage wegen versuchter Republikflucht, aber die Strafe wird zur Bewährung ausgesetzt.

Glück gehabt, aber diese Art von Glück löscht die Sehnsucht nicht aus, die Wächtler in die Freiheit zieht. Immer wenn er im Sommer auf dem Campingplatz in Rerik ist, sitzt er abends stundenlang ganz oben auf der Steilküste und schaut den Schiffen aus Travemünde nach, die nach Malmö und Helsinki fahren. Orte, die er erst in vierzig Jahren wird sehen dürfen, wenn es nach den DDR-Behörden geht.

Mario Wächtler spürt seine Zeit davonlaufen. „War es das jetzt“, fragt er sich dann. Und irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem er es nicht mehr aushält. „Du wirst immer älter“, kritisiert sich Wächtler im Stillen selbst, „es wird immer schwerer, also mach es jetzt.“

In der Talsperre Pöl im Vogtland trainiert er Langstreckenschwimmen. Während der Sommerferien erkundet er mögliche Startstellen für seinen Marathon in die Freiheit. Die Wohlenberger Wiek, eine Bucht etwas südlich und östlich von Boltenhagen, scheint ihm geeignet. Zwar ist der Weg von hier bis drüben weiter, doch der Strand liegt im Dunkeln, die Scheinwerfer der Grenzsicherungseinheiten reichen nicht bis hierher, so dass er ungestört wird starten können.

Anfang September steigt Mario Wächtler schließlich auf der Strandstraße schnell aus dem Auto seines Bruders. Während der zurückfährt, versteckt er sich in einem Gebüsch und streift die Kleider ab, unter denen er einen kurzärmligen Neoprenanzug trägt. Ein Grenzposten patrouilliert vorbei, dann läuft Wächtler ins Wasser. Flossen, Schnorchel, keine Brille, um nicht durch Lichtreflexe auf sich aufmerksam zu machen. Er schwimmt vorsichtig los, aus der Wiek in die offene Wismarbucht, es geht voran, aber es geht zu langsam. Als die Sonne aufgeht, zeigt ihm ein Blick auf den Wachturm am Ufer, dass er noch immer im Hoheitsgebiet der DDR schwimmt.

Angst, es vielleicht doch nicht zu schaffen, packt ihn. Dann taucht auch noch ein Patrouillenboot der DDR auf. Er reißt den Schnorchel raus, taucht ab, wartet. Als er hochkommt, ist das Grenzboot weg.

Aber die Küste rückt kaum mehr näher. Noch immer kämpft sich Mario Wächtler durch das Seegebiet östlich der Fahrrinne, noch immer könnten DDR-Grenzer ihn bemerken, aus dem Wasser fischen und zurückbringen.

DDR-Grenzboot bemerkt die Rettung

Und da passiert es auch schon. Gerade befindet sich Wächtler mitten in der Fahrrinne zwischen den beiden Fähren „Finnjet“ und „Peter Pan“ und glaubt, er könne jetzt um Hilfe winken, ohne von dem in der Nähe liegenden Wachboot des Grenzkommandos Küste bemerkt zu werden. Aber beide Schiffe fahren weiter - bis die „Peter Pan“ auf einmal doch noch wendet. Für das DDR-Grenzboot ist das ein Alarmruf: Irgendwo da im Wasser, wissen die Offiziere und Matrosen an Bord, muss ein Flüchtling sein, den das BRD-Schiff rausholen will.

Nun versuchen die Grenzer, in voller Fahrt zuerst an der Stelle anzukommen, an der sie den Schwimmer vermuten. Mario Wächtler sieht das DDR-Schiff auf sich zurasen, während die riesige Fähre immer noch wendet. Er weiß, die Grenzschützer werden zuerst bei ihm sein.

Aber er irrt. Denn auf einmal lässt der Kapitän der „Peter Pan“ ein Rettungsboot zu Wasser, das nun seinerseits mit Höchstgeschwindigkeit auf Wächtler zuhält.

Glück? Lohn der Mühe, in 19 Stunden 38 Kilometer durch die 15 Grad kalte Ostsee geschwommen zu sein? Jedenfalls Glück für den letzten Flüchtling, der über die Ostsee in den Westen entkommt. Das Rettungsboot langt zuerst an beim Sachsen, der über Bord gezogen werden muss, weil auf einmal alle seine Kräfte versagen. „Wie ein Stück Holz haben sie mich reingezogen.“ Das Patrouillenboot dreht ab, Mario Wächtler ist frei.

Als er auf wackligen Beinen an Bord der Fähre geht, brandet Beifall der Fahrgäste auf, die die Bergungsaktion von der Reling aus verfolgt haben. Bei einer spontanen Spendensammlung für Mario Wächtler bringen die Passagiere an Bord, Leute aus Schweden, Dänemark, Westdeutschland und Holland, mehr als 5000 Mark zusammen. Ein gutes Startkapital für den letzten Ostseeflüchtling, der heute in der Nähe von Hannover lebt, eine eigene Firma hat und sagt, er habe seinen gewagten Schwimm-Marathon nie bereut.