EU-Projekt EU-Projekt : Handy sucht Fluchtweg

Halle/MZ - Auf dem Bildschirm ist ein Plan der Innenstadt Londons zu sehen. Entlang der Straßen bauen sich bunte Balken auf. Die niedrigsten sind grün. Werden sie größer sind sie gelb, die ganz großen sind rot. „Die Balken zeigen an, wo sich wie viele Menschen versammeln“, erklärt Jan Kantelhardt, Wissenschaftler am Institut für Physik der Universität Halle. Der Film veranschaulicht, welche Informationen der Londoner Polizei bei der jährlichen „Lord Mayor’s Show“ in den Jahren 2011 und 2012 zur Verfügung standen. In Echtzeit konnten die Sicherheitskräfte beobachten, wie sich die Mengen entlang der Paradestrecke verteilten und entsprechend reagieren. „Die Polizei fand das Programm sehr hilfreich, weil es objektivere Informationen lieferte, als Kamerabilder“, so Kantelhardt.
Gesammelt wurde die Information über die Verteilung der Besucher entlang der Paradestrecke per iPhone-App. Die Besucher der Veranstaltung, die alljährlich zur Amtseinführung eines neuen Bürgermeisters des Stadtteils City of London veranstaltet wird, konnten dieses Programm für internetfähige Handys kostenlos installieren. Es lieferte ihnen Details über das Programm der Show, aber auch aktuelle Informationen darüber, welche Strecken, Plätze und U-Bahn-Stationen gerade überfüllt sind und besser gemieden werden. Voraussetzung für diese Informationen war die Einwilligung, dass das eigene iPhone seine Position in regelmäßigen Abständen an einen Server sendet. Forscher haben aus diesen Daten mit Methoden der Informatik und der Statistischen Physik analysiert, wie sich die Menschenströme bewegen, zum Beispiel wie schnell sie in Abhängigkeit von der Dichte der Menge sind.
Die Messung von Menschenströmen und wie sie sich verhalten, war Teil des Großprojekts „Socionical“. Vier Jahre lang hat die EU dieses Vorhaben unterstützt, bei dem 15 Partner aus Wissenschaft und Behörden untersucht haben, wie bei Großveranstaltungen, in Notfällen und zur Verkehrssteuerung aktuelle Informationen automatisch gesammelt und verbreitet werden können. Im März wird die Abschlusspräsentation stattfinden.
In Notfall-Szenarien sei die automatische Vernetzung von Handys untereinander denkbar, erklärt Kantelhardt - im Falle eines Ausfalls der Handynetze auch über die Funktechnik Bluetooth. Damit können Informationen, zum Beispiel über freie Fluchtwege, ausgetauscht werden.
In allen drei Anwendungsszenarien spielen folgende Fragen eine Rolle: „Wie hat man Zugriff auf die Daten und wie kann man sie handhaben? Nicht nur die riesige Menge der Daten sei dabei eine Herausforderung, auch die ethische Frage danach, welche Daten man wofür verwendet, sei zu beantworten“, sagt Mirko Kämpf, der in der Arbeitsgruppe von Kantelhardt im Rahmen des Projektes promoviert. Kämpf hat für seine Doktorarbeit untersucht, wie soziale Online-Netzwerke sich mit der Zeit verändern und wie sie zur Verbreitung von Informationen genutzt werden. Am Beispiel von Wikipedia, einem Online-Lexikon, an dem prinzipiell jeder mitschreiben kann, untersuchte er das Verhalten der Textautoren und der Nutzer.
„Die Mechanismen der Informationsverbreitung in sozialen Online-Netzwerken interessieren uns, weil in diesen ebenfalls Informationen über die aktuelle Lage bei einer Großveranstaltung oder im Notfall gesammelt und weiterverbreitet werden könnten“, sagt Kämpf. Wikipedia selbst sei zwar für die Verbreitung von Informationen in Echtzeit weniger geeignet. „Als Forschungsobjekt hatte Wikipedia aber den Vorteil, dass der Verlauf der Textedition und die Diskussionen darüber ebenso frei zugänglich sind, wie Informationen über die Nutzung der Texte“, erklärt Kämpf.
Um zu untersuchen, unter welchen Bedingungen zusätzliche Kommunikationswege einen Mehrwert in bestimmten Situationen haben, haben die halleschen Forscher im Rahmen von „Socionical“ die Evakuierung eines Hauses beschrieben. Dafür hat Kämpf ein Computermodell programmiert. Mit seiner Hilfe wollten die Forscher ermitteln, wie sich Informationen über freie Fluchtwege verbreiten. Die Schwierigkeit dabei: Die Menschen bleiben nicht an einem Ort stehen, sondern bewegen sich fort. „Wegen der Fortbewegung kann man den Informationsfluss während der Evakuierung nicht mit Formeln beschrieben, sondern braucht eine Computersimulation“, erklärt Kämpf. Dabei konnten die Wissenschaftler sehen, dass die zusätzliche Handy-Kommunikation über Funk besonders dann sinnvoll war, wenn die Menschen auf verschiedenen Stockwerken unterwegs waren.
Das dritte Szenario, das automatische Sammeln und Verbreiten von Informationen im Straßenverkehr gestaltete sich im Endeffekt anders, als bei Projektbeginn geplant. „Die Entwicklung von Kommunikationssystemen zwischen den Bordcomputern von Autos hat sich nicht so schnell entwickelt wie gedacht“, sagt Kantelhardt. Deswegen wurde im Rahmen von „Socionical“ allgemeiner untersucht, wie die Verkehrsregelung verbessert werden. „Uns lagen minütliche Angaben der mittleren Geschwindigkeit und der Verkehrsdichte auf dem Autobahnring um Madrid vor - von insgesamt 2 900 Tagen“, sagt Kantelhardt. Das Ziel der Analyse dieser riesigen Datenmenge: „Wir haben Methoden entwickelt, mit denen man den Verkehrszustand besser ermitteln und seine Entwicklung unter gewissen Umständen vorhersagen kann.“ Dies könnte die Funktion von Verkehrsleittechnik verbessern.
Die Darstellung der Menschenmengen bei der Lord Mayor’s Show im Video unter: http://dl.dropbox.com/u/11438106/Crowd_Viz_Vers5.mp4