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Einsames Erinnern Einsames Erinnern: Aufarbeitung im einstigen KZ Lichtenburg

Von Hendrik Kranert-Rydzy 27.01.2014, 07:46
Die Lichtenburg diente als Blaupause für spätere Konzentrationslager. Ihre Geschichte wird in einer modernen Ausstellung erklärt.
Die Lichtenburg diente als Blaupause für spätere Konzentrationslager. Ihre Geschichte wird in einer modernen Ausstellung erklärt. Jens Schlüter Lizenz

Prettin/MZ - 150 Besucher. An nur einem einzige Tag. Melanie Engler würde sich wohl wünschen, dass jeder Tag so wie dieser heutige Montag wäre. Rund 150 Besucher aus Politik und öffentlichem Leben werden zur zentralen Gedenkstunde des Landes für die Opfer des Nationalsozialismus heute im einstigen KZ Lichtenburg erwartet, dessen Gedenkstätte Melanie Engler seit einem Jahr leitet. Stattdessen gibt es Tage wie diesen kalten Donnerstag im Januar, da verirrt sich niemand in die KZ-Gedenkstätte Lichtenburg in Prettin. Wie auch.

Von Halberstadt etwa, da, wo der Todesmarsch der letzten Häftlinge des KZ Langenstein-Zwieberge seinen Anfang nahm, um - unter anderem - in einem Waldstück bei Prettin im heutigen Landkreis Wittenberg zu enden, braucht der interessierte Besucher mindestens zweieinhalb Stunden, um in die Lichtenburg zu gelangen. Mit dem Auto, wohlgemerkt. Anders ist die Anreise gar nicht möglich, eine Bahnverbindung gibt es nicht, und selbst mit dem Bus wird es schwierig. Den muss man tags zuvor bestellen. Prettin ist vom klassischen Linienverkehr abgeschnitten.

300 Besucher mehr

Da wirkt es fast wie ein Wunder, dass Gedenkstellen-Chefin Engler die Besucherzahlen in der Lichtenburg entgegen dem Trend der sachsen-anhaltischen Gedenkstätten-Landschaft im Vorjahr um zehn Prozent hat steigern können. Um 300 Gäste auf 2 300 - im ganzen Jahr. Überraschend ist, dass das Gros der Besucher aus Einzelpersonen besteht. Und nicht, wie man vermuten könnte, aus Schulklassen. „Die fahren lieber nach Sachsenhausen oder Buchenwald“, sagt Engler. Nicht nur jene, für die die Anreise in den äußerten Südosten Sachsen-Anhalts zu kompliziert wäre. Sondern selbst jene aus dem nur gut 30 Kilometer entfernten Wittenberg. „Es ist nicht einfach, die Lage ist nicht gerade förderlich“, sagt Melanie Engler. Doch das ist nicht das einzige Problem.

So bitter es klingt: Der Gruselfaktor in Sachsenhausen und Buchenwald ist deutlich höher als in Prettin. In der Lichtenburg gibt es keine Gaskammern, keine Verbrennungsöfen. Keine Todeskiefer wie in Langenstein, keine Genickschussanlagen. Auf den ersten Blick entspricht das Renaissance-Schloss nicht dem Klischee von Baracken und gestreiften Häftlingsuniformen wie in Spielbergs „Schindlers Liste“, weiß auch der Direktor der Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt, Kay Langer. „Die Lichtenburg ist Herausforderung und Chance zugleich, die gängigen Bilder durcheinanderzubringen“, sagt Melanie Langer.

Nüchtern, klar, modern

Engler und Langer wissen darum. Sie wissen auch, dass ein Großteil der Lehrer in Sachsen-Anhalt noch immer in zwei Kategorien teilt: Gedenken mit der Erinnerungskeule à la DDR oder das völlige Ausblenden der Erinnerung. Wen wundert es? Noch bis 2004 nutzte der damalige Träger der Gedenkstätte Lichtenburg, der Kreis Wittenberg, die zu DDR-Zeiten konzipierte Ausstellung in fast unveränderter Form. Dann schloss der Kreis die Gedenkstätte, die erst 2008 in die gerade gegründete Gedenkstättenstiftung aufgenommen und im Dezember 2011 wieder eröffnet wurde.

Ja, die Lichtenburg ist anders. Sie will erschlossen, erarbeitet werden. Genau das ist auch das Konzept, das Melanie Engler mit einer Mitarbeiterin und einer stundenweise in die Gedenkstätte abgeordneten Lehrerin versucht. Schüler werden ins Gelände geschickt, sollen sich selber Fragen erarbeiten, auf die später gemeinsam Antworten gefunden werden.

Warum dieser Balkon über dem Innenhof? Weil dort das MG platziert war, mit dem die SS die Häftlinge auf dem Appellplatz in Schach halten konnte. Warum standen Häftlinge tagelang in einer Zelle in einem eiskalten Bunker, wo sie nur jeden vierten Tag eine warme Mahlzeit bekamen? Weil sie sich vielleicht ohne Genehmigung hinsetzten oder die Nazis kritisierten. Die neue Ausstellung hilft bei der Suche nach Antworten, ist gleichzeitig Rückzugs- und Diskussionsort. Nüchtern, klar, modern, mit wenigen, dafür umso prägenderen Artefakten. Wie etwa dem Schachspiel des einstigen Oberbürgermeister von Magdeburg und späterem Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Ernst Reuter (SPD), der zweimal in der Lichtenburg inhaftiert wurde.

Besondere Rolle

Doch es sind nicht die prominenten Inhaftierten, die die Lichtenburg besonders machen. Sondern ihre Rolle im System der Konzentrationslager: Das KZ wurde 1933 als eines der ersten in Deutschland eröffnet. In der Lichtenburg wurden Kommunisten, Sozialdemokraten, Homosexuelle und Zeugen Jehovas eingesperrt. Die Männer mussten anfangs noch auf dem Boden riesiger Schlafsäle liegen, Betten habe es keine gegeben, schreibt der Komponist des berühmten Häftlingsliedes „Moorsoldaten“, Wolfgang Langhoff, in seinen Erinnerungen. Das KZ diente quasi als Blaupause für die späteren Lager. Und die Lichtenburg bleibt KZ bis zum Ende des Krieges 1945 - als Außenlager von Sachsenhausen. „Die komplette NS-Zeit als KZ - das ist die historische Besonderheit der Lichtenburg“, sagt Melanie Engler.

Engler, 28 Jahre jung und Politik- und Geschichtswissenschaftlerin, hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese Besonderheit zu vermitteln, vor allem an den Schulen der Region: „Ich glaube nicht, dass es an Bewusstsein in der Lehrerschaft mangelt, aber es gibt jahrelange Routinen, die man aufbrechen muss.“ In Jessen hatte sie damit Erfolg, mit dem Gymnasium gibt es eine Kooperationsvereinbarung; eine mit der Sekundarschule im Ort soll folgen. In Wittenberg hingegen sei der Kampf noch zäh.

Gleichzeitig will sie die Lichtenburg und Prettin einander näher bringen: Der Ort hat sowohl vom früheren preußischen Gefängnis als auch vom KZ profitiert - das fällt noch heute einigen das Sprechen schwer. Dennoch ist es der 28-Jährigen gelungen, erste Interviews mit Zeitzeugen zu führen: „Die Leute wollen reden.“ Vielleicht sind diese Interviews bald der nächste Mosaikstein.

In der Gedenkstätte Lichtenburg ist ab dem 28. Januar eine Sonderausstellung zu sehen. Sie zeigt das Leben der kommunistischen Widerstandskämpferin Lina Haag, die in der Lichtenburg inhaftiert wurde. Das Ausstellungskonzept stammt von der Urenkelin, Franzi Seßler.