Der Geruch des Westpakets Der Geruch des Westpakets: "Eine Mischung aus Kaffee Orangen Seife und Schokolade"

Halle (Saale) - Einmal im Jahr bekommt die 83-jährige Katrin Winterfeld (Name geändert) aus Stendal Besuch von ihrer jüngeren Schwester, die fast ihr ganzes Leben im Rheinland lebt. Auf dem Tisch steht dann auch ein Päckchen. Darin befinden sich Kleinigkeiten, auf jeden Fall Kaffee und Strumpfhosen. Und beim Öffnen verbreitet sich ein besonderer Duft.
Kaffee und Strumpfhosen? Ein besonderer Duft? So wie früher, in den Jahrzehnten vor der Wende, als jährlich Millionen von Westpaketen in den Osten geschickt wurden? Genau so ist es. Die Schwestern erinnern mit ihrer Paketaktion daran, was sie wie viele andere Deutsche vor dem Fall der Mauer auf besondere Weise verband.
Konstanze Soch ist promovierte Historikerin. Sie hat an der Universität Magdeburg studiert und arbeitet jetzt beim Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen in Berlin. Soch hat sich im Rahmen ihrer Doktorarbeit mit dem Thema „Päckchen von drüben“ auseinandergesetzt. Pakete, die in beide Richtungen auf den Weg gebracht wurden - also auch in den Westen.
In Sochs Arbeit spielen nicht nur die beiden Schwestern eine Rolle. Die Wissenschaftlerin hatte im Internet einen Zeitzeugenaufruf veröffentlich, sie sichtete über 500 Rückmeldungen und sprach mit Dutzenden von Zeitzeugen in Ost- und Westdeutschland.
Ein wohliges Ritual, wenn wieder ein Westpaket angekommen war
So auch mit Familie Cabus, die das Ritual schilderte, wenn wieder ein Westpaket angekommen war. Dann ging man nach dem Abendessen gemeinsam ins Wohnzimmer, um dort die Sendung von drüben zu öffnen. „Zuerst die Bänder, dann das Geschenkpapier - schließlich konnte beides noch einmal verwendet werden“, beschreibt Soch in einem Artikel für eine wissenschaftliche Fachzeitschrift den Vorgang.
„Als das Paket dann offen war, füllte sich das Wohnzimmer mit dem so angenehmen Geruch des Westpakets und die bunten Geschenke aus der Bundesrepublik kamen zum Vorschein“, gibt die Historiker der Erinnerungen von Familie Cabus wieder. Der Duft der Westpakete sei heute noch vielen präsent. „Es war eine Mischung aus Kaffee, Orangen, Seife und Schokolade.“
Konstanze Soch hat ihrer Arbeit den Titel „Ostpakete und Westpakete - eine deutsche Beziehungsgeschichte“ geben. Sie beleuchtet ein Phänomen, das mit seinen politischen wie ganz persönlichen Aspekten vielschichtig und auch verzwickt ist. „90 Prozent der befragten Zeitzeugen sagten, sie würden gerne über ,Päckchen von drüben’ sprechen“, berichtet Soch. Das sei ein „freudiges Thema“. Zehn Minuten später hätten sie aber auch von Problemen erzählt: Westdeutsche sahen zum Beispiel ihre Paketsendung nicht genug gewürdigt, Ostdeutsche fühlten sich dagegen nicht selten als Bittsteller. „Westdeutsche haben insgesamt etwas mehr positive Erinnerungen, bei Ostdeutschen schwingt zum Teil noch ein leichtes Minderwertigkeitsgefühl mit“, fasst die Historikerin ein Ergebnis ihrer Zeitzeugen-Interviews zusammen.
Paketverkehr hatte eine private und eine politische Dimension
Der Paketverkehr kam nach der Gründung der Bundesrepublik und der DDR im Jahr 1949 sehr schnell in Schwung. Er hatte eine private und eine politische Dimension: Viele Westdeutsche wollten die Verwandten und Freunde im Osten mit den Warensendungen einfach unterstützen. Das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen indes befeuerte diese Hilfsbereitschaft mit Aufforderungen wie dieser: „Trotz Zonengrenze zusammenhalten. Briefe, Päckchen, Pakete nach drüben.“
Die DDR reagierte und forcierte ihrerseits den Versand von Geschenksendungen in Richtung Westen. Wobei das zunächst nicht über Familien, sondern über volkseigene Betriebe organisiert wurde. Adressiert waren die Pakete anfangs im Übrigen an die „eingekerkerten Freiheitskämpfer“ in Westdeutschland. „Sowohl die DDR als auch die Bundesrepublik nahmen die Chance wahr, über die karitative Motivation hinaus die politische Funktion der Geschenksendungen zu nutzen“, sagt Soch.
Die Waren, die während dieses „kalten Paketkriegs“ auf den Weg gebracht wurden, waren auch ein Spiegelbild der unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklung. Westdeutsche verschickten nach den Erkenntnissen von Soch in den ersten Jahren vor allem Lebensmittel mit einem langen Haltbarkeitsdatum - wie Mehl, Zucker, Butter und Fleisch-Konserven, aber auch Kaffee. Es waren meist nur kleine Päckchen, weil die Menschen in Westdeutschland selbst arm waren. In den Jahrzehnten danach änderte sich das Bild: Die Westpakete nahmen an Umfang und Wert zu, darin fanden sich beispielsweise Genussmittel, Drogerieartikel und neuwertige Kleidungsstücke.
„Die Paketinhalte hatten so auch eine gewisse Schaufensterfunktion“
„Was kann man jemandem schenken, der alles zu haben scheint?“, formuliert Soch eine Frage, die sich viele DDR-Bürger laut Zeitzeugen damals stellten. Sie wollten ihren Verwandten auf Augenhöhe selbst etwas geben und nicht nur als Nehmende dastehend. So füllten sie ihre Ostpakete vielfach mit Spezialitäten regionaler Lebensmittel, mit kunstgewerblichen Gegenständen wie Schwibbögen, mit Belletristik und Kalendern. „Die Paketinhalte hatten so auch eine gewisse Schaufensterfunktion, wie leistungsfähig das jeweilige Wirtschaftssystem ist“, erklärt die Historikerin.
Doch Kaffee, Jeans und Schwibbögen brachten nicht immer nur Freude in die ost- und westdeutschen Familien. Mit den Paketen wurde manchmal auch der Stoff für Missverständnisse und Enttäuschungen verschickt. So weiß Soch aus den Gesprächen mit den Zeitzeugen, dass sich mancher Westdeutsche über das „Anspruchsdenken“ der ostdeutschen Verwandten mokierte, wenn diese ausdrücklich Markenwaren und keine No-Name-Produkte wünschten. „Dass solche Produkte qualitativ nicht schlechter waren, wussten viele Bürger in der DDR nicht“, sagt Soch. Woher sollten sie es auch erfahren haben - aus dem Ostfernsehen sicher nicht. Und aus der Werbung im Westfernsehen auch nicht.
Einige der Zeitzeugen aus dem Osten machten während eines Westbesuchs irritierende Erfahrungen. So hatte sich eine Frau unter Mühen Garn besorgt, Taschentücher umhäkelt und sie für ihre Lieben im Westen als Geschenk mitgenommen. Dort sah sie dann, dass die Taschentücher in einem Kaufhaus im Doppelpack zu einem günstigen Preis verkauft wurden. Ihr Geschenk schien für sie plötzlich keinen Wert mehr zu haben.
Schale als Untersetzer
Eine Familien schickte Verwandten zu einer Hochzeit eine Kupferschale. Später stellten sie bei einem Westbesuch fest, dass die Schale nur als Blumenuntersetzer diente. „Die Enttäuschung darüber war groß“, so Soch.
Das sind Erlebnisse, über die eigentlich hätte offen gesprochen werden müssen. Doch das ist vielfach nicht geschehen, wie die Historikerin von den Zeitzeugen erfahren hat. „Die Konflikte wurden auch nach der Wende nur selten ausgetragen“, sagt Soch.
Wenn man über ein Vierteljahrhundert nach dem Ende dieses Paketverkehrs ein Fazit ziehen will, dann vielleicht dieses: Rund die Hälfte der Befragten erklärt nach Angaben von Soch, das Verhältnis zu den Absendern sei nach der Vereinigung schlechter geworden. „Die andere Hälfte denkt eher wehmütig und auch dankbar an die Zeit zurück, in der man helfen konnte oder Hilfe bekam.“ (mz)