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Computersammler in Halle Computersammler in Halle: Zurück aus der Zukunft

Von Steffen Könau 14.12.2013, 11:14
Sebastian Czech (l.) und Ronny Kunze stehen mit tausenden historischen Rechnern vor dem Umzug in ein neues Quartier in Halle.
Sebastian Czech (l.) und Ronny Kunze stehen mit tausenden historischen Rechnern vor dem Umzug in ein neues Quartier in Halle. Andreas stedtler Lizenz

Halle/Merseburg/MZ - Zuletzt hat im alten Quartier kein Lochband mehr zwischen die bis zur Decke gestapelten Kostbarkeiten gepasst. Berge von Rechnern, Druckern, Fakturiermaschinen, Leiterplatten und Buchungsautomaten ließen Ronny Kunze und Sebastian Czech kaum noch Bewegungsfreiheit, um das zu tun, was sie und die anderen Mitglieder ihrer Digital-Arbeitsgemeinschaft am liebsten machen: Den Staub von einer Neuentdeckung wischen. Das Gehäuse öffnen. Und im Inneren nachschauen, was das vorsintflutliche Stück Rechentechnik daran hindert, wieder in Betrieb zu gehen.

Wo andere Technikfans nach dem neusten iPhone und dem schnellsten Tablet jagen, suchen die Leute von der Digital AG in Halle nach dem genauen Gegenteil. Möglichst alt sollen die Computer sein, gern kaputt, vor allem aber nicht einfach im Laden zu haben.

Seit Sebastian Czech Anfang der 90er zufällig einen im Gebüsch entsorgten alten DDR-Bürocomputer entdeckte, hat die Elektronik-Leidenschaft des Mannes, der hauptberuflich Synthesizer repariert, einen Inhalt gefunden. Czech, schon mit elf Jahren kaum ohne Lötkolben in der Hand anzutreffen, war sofort fasziniert von dem wuchtigen Gerät mit dem Mini-Bildschirm. „Der stammte ursprünglich aus der Bäckereimaschinenfabrik Habämfa“, erinnert sich der 31-Jährige.

Statt auf dem Schrott zu landen, wurde aus der DDR-Antwort auf den Heim-PC der Anfang einer privaten Sammlung, die bundesweit einmalig ist. In den letzten 20 Jahren haben Czech, Kunze und ein Dutzend über das Land verstreute Mitstreiter tausende Rechenmaschinen aus der Zeit vor 1990 zusammengetragen. Manche sind so groß wie ein Schrank, manche erinnern an Schaltpulte, andere sehen aus wie Computer von Bord der „Enterprise“.

Allen gleich aber ist, dass sie im Unterschied zu ihren Nachfolgern von Apple, Samsung und Co. so etwas wie eine Seele haben. „Diese Geräte kann man noch reparieren“, sagt Ronny Kunze, „die waren nicht darauf ausgelegt, weggeworfen zu werden.“ Rechner sind die besten Lehrer, glaubt Mechatroniker Czech. Kunze stimmt zu: „Elektronik ist Physik und die Physik bleibt gleich.“ Es gehe darum, zu bewahren, was einst gewusst wurde: „Man vernichtet doch nicht seine Vergangenheit, wenn man sie vielleicht noch brauchen könnte.“

Längst ist die Suche nach den Maschinen aus der Arbeiter- und Bauernrepublik ein strategisch geplantes Unternehmen geworden. „Wir haben uns Telefonbücher aller DDR-Bezirke besorgt“, erzählt der 33-jährige Kunze, „und aus denen haben wir die alle Firmen rausgesucht, bei denen Elektronik im Einsatz gewesen sein könnte“. Mehr als 17.000 Adressen haben die Archivare einer untergegangenen Zukunft bisher zusammengetragen - immer im Wettlauf mit der Zeit, die unaufhaltsam gegen die letzten überlebenden Exemplare des Tischrechners Iskra 122, der Buchungsmaschine Optimatic 9000 und des kleiderschrankartigen Großrechners K1510 läuft.

Im 23. Jahr nach dem Zusammenbruch der DDR-Industrie stürzen die Dächer über den Ruinen der leerstehenden Fabriken ein, Nässe kriecht in die einst so teure Technik und Schrottsammler konkurrieren mit den Computerfans. So oft sie können, gehen die Techniksammler auf Tour, durchstöbern aufgegebene Industriegelände oder holen vergessene Großvater-Computer aus privaten Kellern ab. „Obwohl die Zeit verrinnt, finden wir doch immer wieder erstaunliche Sachen“, sagt Czech. Er hat die Innovationen einer lange vergangenen Zeit immer um sich - auch in seiner Wohnung stehen Regale voller elektronischer Bauteile, steinzeitlicher Anzeigegeräte und kantiger Rechenhilfen vom DDR-Schulrechner SR1 bis zu Leiterplattenträgern, von den der Experte selbst erst noch ermitteln muss, wozu sie einst dienten.

Maschinen aus der Region

Da hilft keine Google-Suche, sondern nur beharrliche Spürarbeit etwa nach früheren Insidern der DDR-Hightech-Fabriken. „Wir kümmern uns ja hauptsächlich um Maschinen, die hier in der Region entwickelt und gebaut wurden“, erklärt Sebastian Czech. In abrissreifen Ex-VEBs wie dem Gummiwerk Schönebeck oder dem Sprengstoffwerk in Gnaschwitz etwa tauchen immer wieder Seltenheiten auf, die bei den Experten die Augen leuchten lassen: eine Bedienschreibmaschine für den Cellatron C8205Z, ein Lochbandtisch für den KFA1711 und ein Paralleldrucker Videoton VT27065. „Wir nehmen alles“, sagt Sebastian Czech, „wir müssen auch, denn was erstmal verschrottet ist, ist für immer weg.“

Nichts von dem, was sich in den Lagerräumen der AG in Merseburg stapelt, ist neu, nur wenig im Fundzustand einsetzbar. Das aber macht für die Bastler den Reiz aus. „Man kann mit Hilfe der Handbücher und Reparaturanleitungen von früher herausbekommen, wie alles funktioniert hat“, sagt Ronny Kunze, „und dann kann man es auch wieder zum Laufen bekommen.“ Bei vielen alten Kisten, schwärmt der Kenner, könne man das Rechnen sogar noch richtig hören: „Da klappern noch echte Relais.“

Hilft das Handbuch nicht weiter oder ist keines mehr aufzutreiben, findet sich vielleicht noch ein früherer Mitarbeiter der Herstellerfirma. Manchmal sogar auf außerordentlichen elektronischen Wegen. In einem mehr als 30 Jahre alten Speicherbauteil fanden die digitalen Lebensretter beispielsweise den Namen eines der früheren Programmierer. „Zum Glück ein ungewöhnlicher Name, also schnell ins Telefonbuch geguckt, angerufen - und siehe da, er war es“, lacht Kunze, im Hauptberuf Elektroniker in einer Messtechnik-Firma in Leipzig, die vor 1989 zum größten DDR-Digital-VEB Robotron gehörte.

Die Akribie, mit der die Computer-Archäologen vorgehen, bringt erstaunliche Ergebnisse. Ein mumifizierter Rechner etwa, der zwei Jahrzehnte in einer Werkhalle verschimmelte, spricht nach gründlicher Kur heute mit einem seiner elektronischen Nachfahren. Ein 8-Zoll-Diskettenlaufwerk von Robotron liest wieder Daten. Oder es gelingt einfach nur, den tischgroßen Taschenrechner daro 1720 dazu zu bringen, auf Befehlseingaben zu reagieren.

Die Vergangenheit ist nicht tot, glauben Czech und Kunze, sie bleibt immer die Basis dessen, was heute in Smartphones, Laptops und Tablets rechnet. „Die meisten Leute interessiert nicht, wie das geht“, glaubt Czech, „dabei wäre es für jeden wichtig, eine Ahnung zu haben, womit er es da zu tun hat.“

Mit ihrer Digital-AG würden die Hallenser liebend gern dazu beitragen, dieses Verständnis zu vermitteln. Schon seit Jahren träumen sie vom „Rechenwerk“, einem Computermuseum, in dem ihre Fundstücke aus der Zukunft der Vergangenheit zu erleben sind. Der Plan, ein Haus in Halle-Ammendorf zu kaufen, scheiterte allerdings, „weil wir das nicht auch noch leisten können“, wie Ronny Kunze meint. Vor kurzem aber haben die Digital-Archäologen ein Quartier in der Saalestadt bezogen, das es erlaubt, die Kostbarkeiten aus dem Merseburger Hochschulkeller umzulagern und sie Interessierten irgendwann auch öffentlich zu präsentieren. „Nicht alles zugleich, dafür ist es einfach zu viel“, lächelt Sebastian Czech. Aber immerhin so, dass klar ist: Die Vergangenheit mag vergessen sein - funktionieren kann sie immer noch.

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