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Artikel aus der MZ vom 06. September 1990 Artikel aus der MZ vom 06. September 1990: Leben in Wolfen - für die Bürger eine mittlere Katastrophe?

Von Christine Krüger 05.09.2015, 22:05
Wolfen-Nord soll nicht die "Schlafstadt" bleiben, die das Neubaugebiet jetzt ist.
Wolfen-Nord soll nicht die "Schlafstadt" bleiben, die das Neubaugebiet jetzt ist. Jürgen Lukaschek Lizenz

Leben in Wolfen - eine mittlere Katastrophe? "Zur Zeit ja - was das Einkaufen anbelangt. Auch kulturell ist viel zu wenig los in der Stadt, und an Kinder wurde überhaupt nicht gedacht. Zumindest in Wolfen- Nord", sagt Verena Störzner. "Ich finde, für die Leute, die in dieser umweltbelasteten Gegend leben, wurde viel, viel zu wenig getan in vergangener Zeit", antwortet Elfriede Meinecke auf unsere eingangs zitierte Frage. "Deshalb hoffe ich sehr, daß sich nun etwas tut." Und Günther Klemm meint: "Naja, man hat sich dran gewöhnt, daß man in Wolfen ist. Ich wohne ja nicht hier, arbeite aber in der Stadt. Ich muß sagen: Der Dreck stört mich schon und der Geruch von Chemie auch. Sicher kommt es auch darauf an, wo man hier wohnt."

Ich lebe hier, Wolfen ist meine Heimatstadt

So die Meinungen, die wir von Bürgern hörten. Sie müssen es genau wissen, denn sie leben in Wolfen. Umweltbelastung in einem enormen Ausmaß macht die Stadt nicht gerade attraktiv. Dennoch erleben es die Bürger, die hier wohnen, nicht so extrem wie manch Außenstehender. Irgendwo drücken die Meinungen doch Heimatgefühle und Verbundenheit mit der Stadt aus. "Ja, ich fühle mich doch irgendwie verbunden mit dei - Stadt, trotz allem. Ist schließlich meine Heimatstadt", so Elfriede Meinecke. Und ich habe auch nicht die Absicht, hier wegzuziehen." Verena Störzner meint: "Ich habe hier absolut keine Heimatgefühle. Seit sieben Jahren wohne ich hier. Bin damals mit meinem Mann, der in der Braunkohle arbeitet, hergezogen. Ganz ehrlich: Es müßte eine andere Stadt sein, die meinem Gefühl von Heimat entspricht." Rund 46 000 Bürger leben in Wolfen. Die meisten von ihnen arbeiteten in den Chemiegiganten. Diese waren für sie bislang eine sichere Arbeitsstelle. Sie beherrschten den Alltag auch in der Stadt. Seit Monaten gibt es fast überall Kurzarbeit,- Arbeitslosigkeit ist längst kein Fremdwort mehr. ORWO kontra "Kodak" diese Rechnung geht nicht auf...

Das heißt "aus" für Tausende. Allein in Wolfen rechnet man nach vorläufigen Schätzungen mit 6 000 Ar-

beitslosen in den kommenden Wochen.

Ein tragfähiges Konzept für die Stadt

Betriebe schließen, andere halten sich mit Kurzarbeit über Wasser, attraktive Angebote für Freizeit und Kultur gibt es in Wolfen kaum, staatliche Gelder für die Belange der Stadt fließen nicht mehr in dem Maße wie früher. Woher also die nötigen finanziellen Mittel nehmen, um die Stadt sanieren zu können und für ihre Einwohner attraktiver zu machen? "Wir haben im Magistrat gemeinsam mit den gewählten Bürgervertretern ein Konzept erarbeitet, das zwar Zeit zur Umsetzung braucht und auch nicht alles rosa-rot macht, ein Konzept aber, von dem ich denke, daß es ein tragfähiges Angebot ist, aus dem man was machen kann", erklärt Edwin Stahn, Dezernent für Wirtschaftsund Gewerbeförderung beim Wolfener Magistrat, und erläutert die Strategie: An erster Stelle steht die Förderung von Handel, Handwerk und Gewerbe. Denn nur dadurch fließen wieder Gelder in die Stadtkasse.

Am Modell zeigt er die künftigen Standorte, der mittelständischen Industrie. "Wir werden einen Gewerbe-Park errichten, wo verschiedene Kleinund Mittelbetriebe angesiedelt werden. Auch Ladenund Hotelketten kommen hinzu. So fließen Steuern in die Kassen der Kommune, die dann wieder für bestimmte Maßnahmen wie Sozialwesen oder Kultur oder anderes verwendet werden. Hinzu kommt, daß dadurch auch eine Menge neuer Arbeitsplätze entstehen werden," erklärt der Dezernent. "So soll es gelingen, nach und nach eine intakte Infrastruktur zu schaffen. Noch in diesem Jahr werden wir mit d.en Arbeiten anfangen, um das Gewerbegebiet zu erschließen. Im Umweltschutz muß sich das künftige Land und der Staat stark engagieren, denn das übersteigt einfach die Möglichkeiten der Kommune."

Zu einer intakten Infrastruktur zählt für Edwin Stahn auch, das lange Zeit vernachlässigte Wohngebiet Wolfen-Nord, das Frau Störzner schlicht und einfach als eine "Schlafstadt" bezeichnet, soweit wie möglich attraktiv zu machen. Freizeitzentrum, verschiedene neue Läden und anderes sind geplant.

"Doch noch gibt es genügend Schwierigkeiten", sagt Edwin Stahn, "viele Investoren halten sich zurück, weil die. Eigentumsfrage noch ungeklärt ist. Außerdem werden auch heute noch finanzielle Mittel zentralistisch verteilt. Das steht in krassem Widerspruch zur Kommunalverfassug, wonach die Kommunen sich selbst finanzieren sollen. Ich denke, wir würden viel besser dastehen, wenn diese endlich wirklich gültig ist."