Afghanistan Afghanistan: Als der Krieg nach Halle kam
Halle (Saale)/MZ. - Das Foto vom September dieses Jahres zeigt einen ernst dreinblickenden jungen Mann mit Vollbart, Brille und beigefarbenen Basecap. Auf der Rückseite schreibt Florian Pauli an "die beste Mutz und den besten Paps der Welt", dass sie demnächst für 21 Tage rausfahren würden und dass er sich vorher nochmal melden wolle. 21 Tage in der Wüste. 21 Tage ohne Kontakt nach außen. "Es ist der Einsatz, aus dem er nicht zurückgekehrt ist", sagt seine Mutter leise: Am 7. Oktober 2010 ist Florian Pauli, 26, Oberfeldwebel aus Halle, stationiert im niedersächsischen Seedorf, bei einem Selbstmordattentat in Afghanistan getötet worden. Er ist der 44. tote deutsche Soldat in diesem Krieg.
Vielleicht ist Florian Pauli zum Verhängnis geworden, was seine Eltern als eine seiner herausragendsten Eigenschaften beschreiben: anderen Menschen helfen zu wollen. Am Tag seines Todes steigt der 26-jährige in der nordafghanischen Provinz Baghlan als einziger seiner Kameraden aus dem Auto, um sich um einen vermeintlich verletzten Bauern zu kümmern, der am Straßenrand kauert. Der Mann sprengt sich in die Luft und reißt den Soldaten mit in den Tod. Bei dem anschließenden Feuergefecht mit Aufständischen werden 14 weitere Bundeswehrsoldaten verletzt.
"Er war immer für diejenigen da, die Hilfe brauchten", sagt seine Mutter Kathrin und erzählt, was schon in der ersten Klasse im Zeugnis ihres einzigen Sohnes vermerkt war: "Wenn es Streit gibt, kommt Florian um zu schlichten." Später ist er in einer Jugendgruppe der Johanniter-Unfallhilfe, noch später lässt er sich zum Rettungsassistenten ausbilden - ein "Sanitäter aus Berufung", wie sein Onkel Andreas Thinius sagt.
Auch Florian Paulis Interesse für die Bundeswehr erwacht früh. "Er war vielleicht zwölf", erinnert sich sein Vater Kurt, "da waren wir auf einer Luftfahrtschau. Er ist rein ins Bundeswehr-Zelt und hat mit denen erzählt." Seitdem bekommt sein Sohn eine Zeitschrift der Armee nach Hause geschickt. So liegt es wohl nahe, dass er nach seiner Ausbildung auch dort arbeitet: 2005 hat Florian Pauli sich für zwölf Jahre als Zeitsoldat verpflichtet, Berufssoldat will er werden.
Hat er sich freiwillig für den Einsatz in Afghanistan gemeldet? Seine Mutter schüttelt den Kopf und lächelt bitter: "Freiwillig geht dort niemand hin." Man könne sich zwar weigern, doch damit würde man die künftige Karriere als Berufssoldat gefährden. Ihr Sohn, mittlerweile Oberfeldwebel beim Fallschirmjägerbataillon 313 im niedersächsischen Seedorf, erhält seinen Marschbefehl am 28. Juni dieses Jahres, einem Montag. Knapp drei Wochen später, am 17. Juli, geht es los: "Auf dem Flughafen in Hannover haben wir ihn noch verabschiedet." Es ist Florian Paulis erster Auslandseinsatz.
Fast täglich Kämpfe
"Er hat die Gefahren sehr genau gesehen", sagt seine Mutter. Von Kameraden und Freunden, die schon dort waren, weiß er, dass es fast täglich Kämpfe mit Aufständischen gibt. "Sie sind da nicht blauäugig runtergegangen." Seine Eltern selbst sind geschockt, als der Befehl nach Afghanistan kommt. "Natürlich hat uns das nicht gefallen", erinnert sich sein Vater, "aber er hat sich nun einmal für seinen Beruf entschieden." Es ist ein Arrangement, das Kathrin und Kurt Pauli mit der Wirklichkeit geschlossen haben: Wir wollen das nicht, aber es ist so. Und wir müssen da durch.
Das fällt ihnen umso schwerer, als sie von ihrem Sohn längst wissen, dass bei der Bundeswehr nicht alles zum Besten steht. "Die Ausrüstung war miserabel", schimpft Kathrin Pauli. Rund 1 000 Euro habe ihr Sohn schon in Deutschland ausgegeben, um das wichtigste zu beschaffen, dann noch einmal die gleiche Summe in Afghanistan. "In den Feldlagern gibt es spezielle Army-Stores", sagt die 46-Jährige. Es ist nicht so, dass die Soldaten gar nichts hätten. "Aber die Grundausstattung reicht bei weitem nicht, und sie ist unpraktisch", sagt Kurt Pauli. So habe etwa jeder Fallschirmjäger ein Erste-Hilfe-Paket dabei. "Aber es ist so groß, dass es nicht in die Hosentaschen passt." Also kaufen die Soldaten als erstes Hosen mit größeren Taschen. Oder die Schutzwesten: Die der Bundeswehr wiegen 16 bis 18 Kilo, schildert der 60-Jährige. "Also kaufen sie leichtere, die nur sechs bis acht Kilo schwer sind." Ähnlich sei es mit den Stahlhelmen.
Doch Florian Pauli kümmert sich nicht nur um sich selbst. Gemeinsam mit einem Freund sorgt er dafür, dass auch andere Soldaten eine bessere Ausrüstung erhalten. Er macht Druck bei seinen Vorgesetzten, wenn es notwendig ist. "So war er", sagt seine Mutter, "er hat sich reingehängt. Und er hat viele mitgerissen mit seiner offenen Art."
Vielleicht ist es so, dass Eltern manchmal spüren, wenn ihren Kindern etwas zustößt, auch wenn sie weit weg sind. Vielleicht haben Eltern eine Vorahnung. Am 7. Oktober hört Kathrin Pauli mittags in den Radio-Nachrichten von einem toten Bundeswehr-Soldaten. "Das erste, was ich gedacht habe, war: Das ist Florian." Sie ist krankgeschrieben, zu Hause, findet keine Ruhe. Sie schaut nach jedem Auto, das vor dem Haus vorbeifährt. Nachmittags um vier kommen sie mit der Todesnachricht: drei Bundeswehrangehörige aus Leipzig. In den nächsten zwei Wochen wird die Armee Florian Paulis Eltern nicht mehr von der Seite weichen.
Hilfe bei den Formalitäten
Die Bundeswehr hat einen Kameraden und Freund von Florian Pauli freigestellt, der Mann aus Eisleben ist jeden Tag da. Sozial- und Familienberater kommen, hören zu, geben Ratschläge, versuchen Trost zu spenden. "Sie haben uns jeden Weg und jede Formalität abgenommen", sagt Kathrin Pauli, "das war eine Riesenhilfe, dafür sind wir unendlich dankbar." Soviel ist zu erledigen: Am Samstag nach dem Attentat wird der Sarg nach Köln geflogen, die Aufbahrung und die Trauerfeier in Niedersachsen stehen an, die Beisetzung in Halle. Sogar eingekauft hätte die Bundeswehr, aber das hat dann doch Kathrin Paulis Bruder übernommen. Auch jetzt noch stehen die Helfer bereit, wenn es etwas zu klären gibt: Ein Jahr lang betreut die Armee die Hinterbliebenen gefallener Soldaten, mindestens.
Am Rande der Trauerfeier können die Eltern auch mit Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) und dem Generalinspekteur der Bundeswehr, General Volker Wieker, sprechen. Kathrin Pauli redet Klartext in diesen 20 Minuten, sie redet von den Problemen mit der Ausrüstung. Nach allem, was man weiß, hat Florian Paulis Tod zwar nichts mit mangelnder Sicherheit zu tun. "Der Einsatz in Afghanistan ist wohl notwendig", meint sein Vater, "schließlich ist Deutschland in der Nato." Aber wenn es schon sein müsse, dass das Land Soldaten an den Hindukusch schicke, dann müssten die doch wenigstens von vornherein anständig ausgestattet werden. Der Minister sagt zu, sich zu kümmern. Kurt Pauli ist angenehm überrascht von der Begegnung, wie er sagt: "Guttenberg ist jemand, der menschlich reagiert, nicht nur als Politiker."
Enttäuscht ist die Familie dagegen von Dagmar Szabados (SPD). Halles Oberbürgermeisterin kondoliert erst zwei Wochen nach dem Tod Florian Paulis per Brief. Für einen Besuch habe sich kein Termin gefunden, sagte Szabados der MZ. Auch bei der Trauerfeier in Niedersachsen habe sich keine Gelegenheit zum Kondolieren ergeben.
Wie finden sie Trost nach dem Tod ihres Sohnes? Kathrin Pauli zögert, "gar nicht", sagt sie dann. "Man kann nur versuchen, damit umzugehen." Demnächst will sie wieder an ihrem Schreibtisch in einer Wohnungsgenossenschaft sitzen. Und ihr Mann will wieder Taxi fahren. Aber sie haben ein bisschen Angst davor. Angst, von Fahrgästen oder Mietern angesprochen zu werden auf den Verlust. "Im Moment kommen wir ganz gut klar, aber wer weiß, wie das dann sein wird", sagt die 46-Jährige.
Sie schaut auf das große Foto ihres Sohnes, das sie in einer Ecke im Wohnzimmer aufgehängt haben. Auf der Kommode davor liegt fein säuberlich gefaltet die Bundesflagge, die den Sarg bedeckt hat. Daneben sind auf ein schwarzes Kissen zwei posthum an Florian Pauli verliehene Orden der Isaf gesteckt. In der Garage steht noch sein schwarzer Dodge Caliber. Das Auto amerikanischen Fabrikates sei "sein Baby" gewesen, sagt sein Vater. In seiner Freizeit hat sein Sohn an dem drei Jahre alten Wagen rumgeschraubt, hat ihn getunt. Erst vier Wochen, bevor er nach Afghanistan aufgebrochen ist, hat er sich ein Motorrad gekauft, eine knallgrüne Kawasaki. Irgendwann wollte er eine Familie gründen, wenn er die richtige Frau gefunden hätte. Florian Pauli hatte noch so viel vor. "Sein Leben", sagt seine Mutter leise, "war einfach zu kurz."