Projekt Stolpersteine Projekt Stolpersteine: Initiative erinnert an jüdische Bürger Wittenbergs

Wittenberg/MZ - Eugen Borinski, geboren am 23. September 1875, deportiert nach Auschwitz am 16. Mai 1944 und ermordet. Wer die Inschrift auf der kleinen, vor dem Haus Nr. 84 in der Collegienstraße in den Boden eingelassenen Messingplatte lesen will, muss sich herunterbeugen. Und genau das ist gewollt. Mit gebeugtem Knie erweise man den Menschen, an die die Stolpersteine erinnern, eine späte Reverenz, sagt Gunter Demnig.
Am Dienstag war der Künstler und Urheber des Projektes Stolpersteine wieder in Wittenberg, um der langen Liste der vertriebenen und ermordeten jüdischen Menschen sechs neue Namen hinzuzufügen. 27 Mal besteht nun Gelegenheit, Knie und Rücken zu beugen.
Mehr als die dürren Daten
Dass von Eugen Borinski und seiner Frau Julie mehr in Erinnerung bleibt als die dürren Daten zu Geburt und Tod, ist Renate Gruber-Lieblich, Mario Dittrich und Reinhard Pester zu verdanken. Seit Jahren forscht das Trio in Büchern und Archiven, spürt der Biografie jener Menschen nach, deren Lebenswege sich im Nationalsozialismus in Leidenswege verwandelt haben.
Im Jahr 2008 wurden die ersten Stolpersteine in der Lutherstadt Wittenberg verlegt. Seither sind auf Initiative von Mario Dittrich, Renate Gruber-Lieblich und Reinhard Pester alljährlich neue Gedenkorte hinzugekommen, die an Opfer der NS-Diktatur an ihrem letzten frei gewählten Wohnort erinnern.
Damit hat das Trio eine Idee des Künstlers Gunter Demnig aufgegriffen, der 2003 die ersten offiziell genehmigten, ins Trottoir eingelassenen Messingsteine mit Namen sowie Daten zum Lebensanfang und -ende von verschwundenen Mitbürgern in Freiburg im Breisgau verlegte. Inzwischen liegen Stolpersteine in über 500 Orten Deutschlands sowie in mehreren Ländern Europas. Allein in der Lutherstadt sind es seit Dienstag nun 27 Stolpersteine.
Ziel des Projektes ist es, die Erinnerung an die Vertreibung und Vernichtung der Juden, Zigeuner, politisch Verfolgten, Homosexuellen, Zeugen Jehovas und der Euthanasieopfer im Dritten Reich lebendig zu halten.
Für 120 Euro kann jeder eine Patenschaft für die Herstellung und Verlegung eines solchen Gedenksteins übernehmen. (sho)
Das Ehepaar Borinski, in Zerbst ansässig, führt in der Collegienstraße in Wittenberg ein Kaufhaus mit angegliederter Wohnung. Der Hauptwohnsitz bleibt Zerbst, da beide dort der jüdischen Gemeinde verbunden sind. Ein erster landesweiter Aufruf zum Boykott jüdischer Geschäfte und Ärzte trifft auch die Borinskis und macht besonders Eugen Borinski zu schaffen. Er beschließt, sein Geschäft aufzugeben, kehrt zurück nach Zerbst und übernimmt dort das Geschäft seines Schwiegervaters im Vertrauen darauf, dass das Klima dort weniger martialisch sei. Eine trügerische Hoffnung. In der Reichspogromnacht wird der Laden verwüstet, anschließend in „arische“ Hände verkauft. Die Familie muss in ein Judenhaus umziehen, ihr Vermögen wird eingezogen und auf einem „Sicherungskonto“ festgelegt. Abhebungen müssen beantragt und können jederzeit ohne Begründung abgelehnt werden. 1942 werden Julie und Eugen Borinski nach Theresienstadt deportiert und am 16. Mai 1944 nach Auschwitz, wo beide in den Gaskammern ermordet werden.
Schüler der Förderschule Güterglück beteiligen sich an Projekt
Dass es ihnen immer besser gelingt, fündig zu werden und Biografien lückenloser nachzuzeichnen, sei nicht zuletzt dem Projekt Stolpersteine selbst zu verdanken, sagt Renate Gruber-Lieblich. „Es ist ein Netzwerk entstanden von Menschen, die einander gegenseitig unterstützen, Hinweise weitergeben und es ermöglichen, Verknüpfungen zwischen verschiedenen Lebensorten herzustellen.“ Am Dienstag ist eine Gruppe junger Menschen mit von der Partie, die ebenfalls wertvolle Tipps und Informationen geliefert haben. Schüler der Förderschule Güterglück bei Zerbst sind mit dem Schulsozialarbeiter Norbert Krampitz gekommen, weil sie selbst in Zerbst an den Forschungen zu den Schicksalen jüdischer Bürger beteiligt waren. Im Rahmen eines Kooperationsprojektes mit dem Albert-Schweitzer-Familienwerk wurden 40 Stolpersteine verlegt. Die Arbeit habe sie angeregt, „das jetzt weiter zu verfolgen“, unterstreicht Krampitz. In der Collegienstraße 84 und auch bei den Stolpersteinen für Richard Goldmann und seine Schwester Binka Goldschmidt am Markt 2 sowie in der Jüdenstraße 7 vor der ehemaligen Wohnstätte von Dora und Berta Rindenau legen die jungen Leute gelbe Rosen nieder - weiße, rote und lachsfarbene Exemplare sowie einige Narzissen von den rund 30 Menschen, die die Verlegung begleiten, gesellen sich dazu.
Damit indes nicht allein diejenigen, die an diesem Tag den Ausführungen lauschen, vom profunden Wissen profitieren, das in den vergangenen Jahren durch die Stolperstein-Initiative gesammelt wurde, plant das Trio als nächsten Schritt die Herausgabe einer Broschüre. „Es ist an der Zeit“, findet Reinhard Pester.
Berührende Momente
Gunter Demnig ist derweil schon auf dem Weg zur nächsten Stolpersteinverlegung in Dessau. Allein 2014 sei er 235 Tage nur für dieses Projekt unterwegs gewesen, erzählt er. Routine komme trotzdem nie auf. „Jede Situation ist anders und besonders.“ Vor allem wenn Angehörige und Nachfahren der Deportierten dabei seien, gebe es sehr berührende Momente. „Dann weiß ich wieder ganz genau, warum ich das mache.“