Die zwei Leben des Dr. Sengewald
Allstedt/MZ. - Wer hätte das gedacht: Um 1000 nach Christi zählten die Allstedter Hänge mit Südlage bereits zu den damals bekannten Weinanbaugebieten.
Über das Jahr 1570 wird in der Allstedter Chronik berichtet, dass von den Hängen des Galgenberges - dort verschandeln heutzutage Windräder die liebliche Landschaft - und vom Schlossberg immerhin 500 Eimer Wein kamen. Einen edlen Tropfen lieferten die Weinterrassen am Schloss noch um die Wende des vorigen Jahrhunderts. Doch in den letzten Jahrzehnten verwilderten diese Hänge zum Rohnetal zusehends und von den einstigen Weinterrassen unterhalb der Burganlage blieb nur noch die Erinnerung. Das ist die kleine Vorgeschichte.
Dr. Karl-Heinz Sengewald ist ein gebürtiger Allstedter. Der schmächtige Mann ist heute 77 Jahre alt und wurde 1927 im Rohnestädtchen geboren. Ein paar Jahre zuvor, 1922, kam "der erste elektrische Strom" nach Allstedt. Und im Geburtsjahr von Sengewald wurde das erste Freibad seiner Bestimmung übergeben.
Zu dieser Zeit registrierte man im Ort so etwas wie ein kleines Wirtschaftswunder. Elf Kneipen luden zum Bier, sieben Tankstellen boten für die wenigen Motorfahrzeuge Treibstoff, zehn Bäcker und acht Fleischer stellten die Versorgung sicher. Bei etwa 3 200 Einwohnern überrascht die Anzahl der Läden und Geschäfte: Es waren 55. Postamt, Bahnhof, Amtsgericht, Sparkasse, Bank, Krankenhaus, Gasanstalt, Molkerei und Forstamt machten das Städtische aus im kleinen Ort. Die Alten denken heute mit Wehmut zurück an diese Zeit.
Und: Allstedt war damals thüringisch, gehörte zum Landkreis Weimar. Kein Wunder, dass sich Sengewald auch heute noch "als richtiger Thüringer" fühlt. Obwohl er die längste Zeit seines Lebens in Deutschlands Norden verbrachte. Schulzeit, Krieg, Notabitur, Gefangenschaft, Nachkriegszeit. Sengewald entscheidet sich für einen landwirtschaftlichen Beruf, wird sogar für ein knappes Jahr in Allstedt Berufsschullehrer, studiert in Halle an der Martin-Luther-Universität, geht nach vier Semestern nach Kiel und beendet dort sein Studium.
1952 war er mit nicht wenigen seiner Kommilitonen "rübergemacht", wir er es nennt. Ein bisschen Angst vor dem Sozialismus, ein bisschen Angst vor den Russen und den Kommunisten - da kam für Sengewald eine Menge zusammen.
Im Westen war sein Weg vorgezeichnet: 1953 macht Sengewald sein Diplom, dann folgt die Promotion in landwirtschaftlicher Betriebslehre.
Dr. Sengewald wird Beamter in der Landesregierung Schleswig-Holstein. Nennt man es Heimatliebe? Die Verbindungen in den Osten rissen nie ab, regelmäßige Besuche in Allstedt verstärkten das Heimatgefühl. "Schleswig-Holstein ist meine zweite Heimat geworden", bekennt der Allstedter aus Thüringen: "Meine Heimat hatte ich der politischen Freiheit zuliebe aufgegeben, vergessen habe ich sie nicht."
Alles andere schreibt Sengewald Zufällen zu. 1989. In seine Frühpensionierung fällt die Zeit der politischen Wende in der DDR. Seine Heimatverbundenheit siegt über das bequeme und auskömmliche Leben eines Pensionärs. Seit 1990 ist Sengewald regelmäßig in Allstedt, mischt sich auch ein, möchte, dass in den gesellschaftlichen Umbrüchen keine Fehler in der Entwicklung gemacht werden.
Sengewald muss auch erleben, dass manche Besserwisserei sich gegenüber intelligenteren Lösungen durchsetzt. Als Beispiel nennt er die Ausweisung von Gewerbegebieten, die noch immer brach liegen. Sengewald bekommt trotz allem heimatlichen Boden unter die Füße, erträgt seine Irrtümer, legt mit Hand an.
Ein Glücksfall. 1995 kauft er "ein Stück Berg unterhalb des Schlosses". Aus dem Glücksfall macht Sengewald eine "Traumrealität". Oder nennen wir es einmal so: Der Pensionär aus Norddeutschland wird in Allstedt wieder heimisch und realisiert einen Traum. "Eigentlich habe ich zwei Leben", sagt er, "im Winter lebe ich in Schleswig, im Sommer in Allstedt."
Aus dem etwa 4 000 Quadratmeter großen Berg hat Sengewald inzwischen einen sehenswerten Weinberg gemacht, nach historischem Vorbild. 200 Rebstöcke liefern schmackhaften Tafelwein. In einem guten Jahr erntet der Hobbywinzer rund 200 Kilogramm Trauben, aus denen er etwa 100 Flaschen besten Traubensaft macht, "für den Eigenbedarf".
Bei der Renaturierung fand Sengewald eine alte Weinrebe, deren Alter so auf die 150 bis 200 Jahre geschätzt wird. Ein Wissenschaftler aus Halle hat sogar Genmaterial entnommen. Am kleinen Sommersitz, übrigens ohne Energieanschluss, rankt ein Ableger dieser Uraltrebe und liefert leckere blaue Trauben.
Die 77 sieht man dem energischen Mann mit dem wettergegerbten Gesicht nicht an. Und die Hände des Akademikers können mit denen eines Bauarbeiters getrost mithalten. Diese schwieligen Hände erzählen von vielen Stunden Arbeit auf dem Berg. Der neue Allstedter Weinberg ist nicht nur Idylle schlechthin - er ist ein erster Schritt zurück zu den historischen Wurzeln. Und weiß man's, vielleicht gibt es im Rohnestädtchen ja bald eine Weinkönigin?