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Erinnerung Erinnerung: Beim Tee im Herrenhaus

Von Ute Hartling-Lieblang 08.01.2014, 19:31
Ruth Brandt ist in Gröbzig geboren
Ruth Brandt ist in Gröbzig geboren Rebsch/Repro Lizenz

Köthen/MZ - Wenn der Name Ruth Brandt fällt, denken die meisten Leser sicher zuerst an Hermann Wäschke. Das ist kein Zufall, denn Ruth Brandt wurde in Anhalt vor allem durch ihre Lesungen der „Paschlewwer Jeschichten“ in Mundart bekannt. Damit hat sie in vielen Jahren Generationen von Zuhörern erfreut.

Es gab aber auch sonst kaum ein kulturelles Ereignis in Köthen, bei dem Ruth Brandt nicht dabei war. Manches ergibt sich aus ihrer Biografie, anderes wiederum aus ihrem großen Bedürfnis, sich in das gesellschaftliche und kulturelle Leben ihrer Heimatstadt einzubringen, in der sie seit 1927 lebt. In dem Haus in der Langen Straße 41 in Köthen mit dem großen schönen Garten, der den vier Geschwistern viel Platz zum Spielen ließ, hat sie bis ins hohe Alter gelebt. Heute verbringt die 93-Jährige ihren Lebensabend im städtischen Pflegeheim mit wunderschönem Blick auf den Lutzepark.

Berühmter Großvater

Geboren ist Ruth Brandt im Dezember 1920 in Gröbzig als Tochter des Lehrers Alfred Lange. Ihre Mutter war eine geborene Eilfeld. Ihr Großvater Friedrich Eilfeld gilt als Pionier der Spinndüsenherstellung. Mit dem Patent Nr. 221572 stieß er im Jahr 1908 die Tür zur weltweiten Produktion von Kunstfasern auf. Zu ihrem Großvater, der Uhrmacher von Beruf war und 1942 verstarb, hatte Ruth Brandt ein sehr enges Verhältnis. Besonders in Erinnerung geblieben sind ihr die kleinen Kraftübungen, bei denen es galt, die Hand des Großvaters zu öffnen, in der er immer eine Münze versteckt hatte.

Doch es war nicht der Erfindergeist von Friedrich Eilfeld, der schließlich den beruflichen Werdegang des jungen Mädchens bestimmte, sondern das Vorbild des Vaters. Ruth Brandt entschied sich, Lehrerin für Deutsch und Kunsterziehung zu werden. Das war aber in den Kriegsjahren gar nicht so einfach. Ihr Abitur sollte die Tochter auf Wunsch des Vaters nicht in Köthen machen - weil er hier den Einfluss der NSDAP fürchtete -, sondern in Dessau. So besuchte die junge Köthenerin in den 30er Jahren das Mädchen-Lyzeum in Dessau, das sich zwischen Westausgang des Bahnhofs und Bauhaus befand. Später wurde es Militärlazarett, heute werden die Gebäude von der Hochschule Anhalt genutzt. Bis zur Abiturprüfung kam es aber nicht, schildert Ruth Brandt. „Wir wurden ein halbes Jahr zum Arbeitsdienst geschickt“. Die Befähigung, ein Studium aufzunehmen, erhielt sie dennoch.

Einladung ins Herrenhaus

An die Zeit im Lyzeum, die eine ihrer schönsten war, kann sich die Köthenerin noch gut erinnern. „In dem Gebäude befand sich ein Raum mit einer großen Schiebetür und dahinter stand ein Klavier, da habe ich oft gespielt und meine Mitschülerinnen haben dazu getanzt“, erzählt Ruth Brandt.

Ihr Studium hat sie am Lehrerseminar in Leipzig absolviert. Hier nahm sie auch Orgelunterricht. Dieses Instrument hat Ruth Brandt bis ins hohe Alter immer wieder mit großer Freude gespielt. Wo immer sie Gelegenheit hatte, eine Orgel erklingen zu lassen, tat sie dies.

So erzählt Ruth Brandt von einer für sie eindrucksvollen Begebenheit aus den Vierzigern. 1941 kam sie als frischgebackene junge Lehrerin nach Radegast. „Nach vier Semestern in Leipzig kam jemand von der Anhaltinischen Regierung, der uns erklärte, die Jungen müssten nun in den Krieg und die Mädchen in die Praxis“, schildert Ruth Brandt.

In ihrer Radegaster Zeit kam es öfter vor, dass die Lehrer mit ihren Schülern auf die umliegenden Äcker zum Ernteeinsatz ausrückten. Einmal sei sie dort einem Nachfahren derer von Bussche Lohe und Wuthenau begegnet, der noch bis 1945 auf dem ehemaligen Herrensitz gewohnt hat, schildert Ruth Brandt. Das könnte Hans-Ulrich von Trotha gewesen sein, der das Familienerbe 1945 aufgeben musste und nach der Wende wieder nach Cösitz zog. Hier verschwimmen die Erinnerungen von Ruth Brandt etwas. Allerdings weiß sie noch genau, dass sie von dem Mann in der Kutsche zum Tee eingeladen wurde, als sie von der kleinen Cösitzer Kirche und deren Orgel schwärmte. Nach dem Tee sei dann auch extra ein Junge herbeigerufen worden, der die Orgel-Bälge treten musste, während sie spielte.

Wie sehr ihr das Orgelspiel in Fleisch und Blut übergegangen ist, belegt auch eine Episode, die die Tochter von Ruth Brandt, Sabine Görsch, beisteuert: Zum 80. Geburtstag der Mutter habe diese ihre Gäste überraschend in die Köthener Schlosskapelle geführt und ihnen etwas auf der Zuberbier-Orgel vorgespielt, schildert sie.

Ein Bild von Theuerjahr

Im letzten Kriegsjahr wurde Ruth Brandt von ihrem Vater, der Angst um die Tochter hatte, gedrängt, von Radegast nach Köthen zu kommen, was sie auch tat. 1944 ging sie zunächst als Lehrerin an die Bachschule, später war sie auch an der Markt- und Schlossschule tätig. Ab 1961 kam sie zur EOS. Dazu absolvierte sie in Leipzig noch ein Fernstudium in Kunsterziehung, um auch in den höheren Klassen unterrichten zu können. Als Ruth Brandt 1981 nach erneuter Tätigkeit an der Bachschule in Rente ging, half sie noch gern ab und zu in den Fächern Musik und Kunstgeschichte aus.

Die Liebe zu Musik und Kunst hat die Köthenerin aber nicht nur in ihrem Beruf, sondern auch ganz privat gelebt. Von 1981 bis 2002 war sie Mitglied des Ensembles „Cantores“, das sich unter anderem der Pflege des Bachschen Erbes verschrieben hatte.

Sie engagierte sich auch dafür, dass der Maler Martin Theuerjahr in seiner Heimatstadt nicht in Vergessenheit gerät. Ruth Brandt, die oft liebevoll als „Köthener Urgestein“ bezeichnet wird, hat den Künstler noch persönlich kennengelernt. Er wohnte ihr schräg gegenüber in der Langen Straße 23. Das Haus hatte Theuerjahr 1907 gekauft. Als junges Mädchen wurde sie nach dem Krieg von ihrem Vater einmal zu Theuerjahr geschickt, um dem Künstler ein Bild abzukaufen, weil damit in der schlechten Zeit kaum Geld zu verdienen war. Die 150 Mark, die der Vater dafür zahlte, seien für sie, die als Lehrerin gerade mal 200 Mark verdiente, damals eine Menge Geld gewesen. Das Bild zeigt ein Motiv vom Bodensee. Ruth Brandt präsentierte es 1999 bei einer Ausstellung von Theuerjahrs Werken in der Kreissparkasse, wo sie auch die dazugehörige Geschichte zum Besten gab. Auch kürzlich wurde es wieder in der Ausstellung des Historischen Museum „Meine Geschichte mit Köthen“ gezeigt - nebst eigenen Zeichnungen von Ruth Brandt.

Mit Mundart im Radio

So wie die Bilder von Theuerjahr sind der Köthenerin auch die bereits erwähnten „Paschlewwer Jeschichten“, mit denen sie sich viele Jahre beschäftigt hat, ans Herz gewachsen. Den Anstoß dazu erhielt sie bereits im Elternhaus. Dort wurde nicht nur reinstes Anhaltisch gesprochen, der Vater regte die Tochter auch zum Lesen der Heimatliteratur an. Vielleicht hat aber auch die Tatsache, dass Hermann Wäschke von 1865 bis 1871 Schüler am Ludwigsgymnasium war und die Festschrift zum 250. Jubiläum verfasste, dazu beigetragen, dass Ruth Brandt dem Heimatdichter immer näher kam. Jedenfalls zögerte sie 1995 keinen Augenblick, als man sie fragte, ob sie die „Paschlewwer Jeschichten“ einem interessierten Publikum näher bringen möchte. Das tat sie dann auch bis ins hohe Alter hinein. „Wäschke hält mich jung“, hat sie einmal gesagt. Nicht zuletzt wurde sie 2003 zu einer Lesung im Deutschlandradio Berlin eingeladen und vom Sender interviewt.

Es gibt sicher viele ganz besondere und persönliche Begegnungen mit Ruth Brandt, von denen man an dieser Stelle berichten könnte. Wer sie kennt, weiß, dass sie nie auf den Mund gefallen war und gerade deshalb von vielen geschätzt wurde und wird.

Die Schüler von früher

Stets hat sie versucht, ihre Heimatstadt Köthen in Anhalt auch nach außen zu vertreten. Und so gab es für die damals schon 90-Jährige auch kein Zögern, als sie die Chance witterte, den Philosophen und Bestseller-Autor Richard David Precht zu einer Lesung nach Köthen zu holen. Das war 2011. Frau Brandt hatte erfahren, dass dessen Mutter eine frühere Schülerin von ihr war, und Kontakt aufgenommen. Vier Jahre zuvor vermittelte sie auf ähnlichem Wege die Schenkung einer Medaille, die an die Gartenbauausstellung 1887 erinnert, an das Historische Museum. Herta Borchert, ebenfalls eine ehemalige Schülerin, hatte diese von ihrem Großvaters geerbt und Frau Brandt bei einem Klassentreffen davon erzählt.

Wenn sich Schüler an ihre Lehrerin Ruth Brandt erinnern, tun sie das meist mit großer Hochachtung, wie bei einem Klassentreffen im Jahr 2011, wo Ingrid Nauke schwärmte: „Sie war eine perfekte Lehrerin, gerecht, sympathisch und vor allem hübsch.“ Selbst als die langjährige Leiterin der Köthener „Völkerfreundschaft“, Ria Brösigke, 2005 in den Ruhestand verabschiedet wurde, vergaß sie nicht zu erwähnten, dass es unter anderem Ruth Brandt war, die ihre pädagogischen Fähigkeiten entdeckte und sie zum Lehrerstudium ermunterte. Schönere Komplimente kann es für die heute 93-jährige Ruth Brandt, Mutter von zwei Kindern, Oma von vier Enkeln und drei Urenkeln, kaum geben.

Ruth Brandts Großvater Friedrich Eilfeld betrieb in der Holtzhausenstraße eine Uhrmacherwerkstatt.
Ruth Brandts Großvater Friedrich Eilfeld betrieb in der Holtzhausenstraße eine Uhrmacherwerkstatt.
rebsch/Repro Lizenz
Das Foto des Großvaters vor dessen Villa stammt aus dem Privatarchiv der Enkelin.
Das Foto des Großvaters vor dessen Villa stammt aus dem Privatarchiv der Enkelin.
Privat Lizenz