Streit um Emil-Abderhalden-Straße Streit um Emil-Abderhalden-Straße: Freispruch spaltet Stadtrat
Halle (Saale) - Schuldig oder nicht schuldig. Nichts weniger als dieses Urteil erwarten die etwa 150 Besucher, die am Dienstag im Hörsaal der Leopoldina bei der Vorstellung der Studie zu deren ehemaligen Präsidenten Emil Abderhalden gekommen sind. Er hat von 1932 bis 1950, also auch in der Zeit des Nationalsozialismus, die Akademie geleitet. Der Vorwurf steht im Raum, dass Abderhalden ein Rassist und Wegbereiter des Nationalsozialismus gewesen sei. Deshalb wird im Stadtrat und in Halle seit Jahren über die Umbenennung der Emil-Abderhalden-Straße am neuen Geisteswissenschaftlichen Zentrum gestritten. Das weiß auch der extra aus Hannover gekommene Moderator Oliver Kuklinski. „Ich selbst habe keinerlei Interessen bei dem, was heute hier verhandelt wird“, sagt er gleich zu Beginn der Veranstaltung. Eine Entscheidung in dieser Frage könne eine Studie aber nicht leisten.
Kein überzeugter Rassist oder Nationalist
Und dennoch präsentiert die unabhängige Historikerkommission im Auftrag der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina am Ende ein Ergebnis, das einem Urteil ziemlich nahekommt: Freispruch mit Einschränkungen. „Ein lupenreiner Demokrat war Abderhalden sicherlich nicht, aber auch kein Nationalsozialist. In ihm bündelte sich die komplexe Widersprüchlichkeit seiner Zeit“, sagt der Heidelberger Historiker Wolfgang Eckart, der in Vertretung des erkrankten Autors der Studie, Rüdiger vom Bruch, spricht. Abderhalden sei kein überzeugter Rassist oder Nationalsozialist gewesen. Die Annahme einer massiven Verstrickung in das Dritte Reich sei haltlos. Auch der Vorwurf, Abderhalden habe wissenschaftlich Betrug begangen, könne nicht nachgewiesen werden.
Auch im Saalekreis erhitzt seit Monaten eine Straßenwidmung die Gemüter. Anlass dazu gibt eine Straße an der Hochschule Merseburg, die im vergangenen Jahr nach dem bekannten Verfahrenstechniker Günther Adolphi benannt worden war. Zu Jahresbeginn aufgetauchte Dokumente zeigen jedoch, dass Adolphi während der NS-Zeit beim Aufbau einer Methanolanlage in Auschwitz-Monowitz mithalf und ziehen dessen Lebenswerk in Zweifel.
Bereits im Jahr 2009 beleuchtete der Historiker Georg Wagner-Kyora in seiner Habilitationsschrift „Vom ‚nationalen‘ zum ‚sozialistischen‘ Selbst“ Biografien deutscher Chemiker während der NS- und DDR-Zeit. Ein ganzes Kapitel widmet sich dabei der Tätigkeit Günther Adolphis, der von 1943 bis Januar 1945 als Unterabteilungsleiter in der Hydrierung und als Montageleiter für den Aufbau der Fabrik zuständig war. „In dieser Funktion hatte er mutmaßlich persönlich KZ-Häftlinge bei Bauarbeiten eingesetzt, beaufsichtigt und ihre Arbeitsfähigkeit kontrolliert sowie diszipliniert“, schreibt der Historiker in seinem Buch. Er beruft sich dabei jedoch nur auf Zeitzeugenberichte, die deutlich machen, dass die Ingenieure das Leid der Häftlinge und deren massenweises Sterben aufgrund von Hunger und Kälte mitbekamen und dem gegenüber mit der Zeit abstumpften.
Auch das Internationale Auschwitz-Komitee, ein Zusammenschluss von Auschwitz-Überlebenden und ihren Organisationen, schaltete sich in die Debatte ein, sprach von einer schlampigen und pietätlosen Entscheidung. Daraufhin versprachen Stadt und Hochschule neue Recherchen zum Leben Adolphis. In der Aufarbeitung der Namenswidmung hatte die Hochschule auch Kontakt zu Historiker Wagner-Kyora aufgenommen, der zudem eine Art Gutachten zu Adolphi schrieb. Allerdings ging man mit unterschiedlichen Ansichten auseinander.
OB Wiegand revidiert Meinung
Allerdings habe sich der ehemalige Präsident durchaus Dinge zuschulden kommen lassen. Abderhalden habe im vorauseilenden Gehorsam die Namen der jüdischen Mitglieder aus den Akademielisten gestrichen und das der NS-Führung gemeldet. Das Vorgehen zeuge aber eher von taktischen Winkelzügen, er habe Staat und Partei von der Leopoldina ablenken wollen. Auch seine Forschung zur Eugenik sei zwar durchaus anschlussfähig für die Ideologie des Nationalsozialismus gewesen, ohne allerdings direkter Wegbereiter gewesen zu sein. Das Fazit der Studie: „Für unkritische Verehrung taugt Abderhalden ebenso wenig wie für eine lebensfremde Aburteilung.“
Die am Dienstag vorgelegte Studie zu Abderhalden hat schon direkt im Anschluss Bewegung in die Debatte um die Umbenennung der Straße gebracht. Oberbürgermeister Bernd Wiegand (parteilos), der zuvor für einen neuen Namen plädiert hatte, revidiert seine Meinung. „Eine Umbenennung ist im Lichte der neuen Erkenntnisse nicht mehr zu rechtfertigen“, sagt er auf MZ-Anfrage.
Schlechtes Vorbild für das GWZ
Die Grünen bleiben dagegen bei ihrer Haltung, dass die Straße umbenannt werden müsse. „Wir brauchen eine repräsentativere Adresse für das Geisteswissenschaftliche Zentrum“, sagt die Fraktionsvorsitzende Inés Brock. Ein Kompromiss wie die Teilung der Emil-Abderhalden-Straße sei aber denkbar. Die Vorsitzende des Kulturausschusses des Stadtrates, Annegret Bergner (CDU), hält die Debatte um die Umbenennung nach der neuen Studie dagegen für sinnlos. „Für mich gibt es jetzt noch weniger Grund dafür als je zuvor“, sagt sie
In dieser Frage hält sich die Universität Halle noch bedeckt. Rektor Udo Sträter meinte, dass die Studie im Grundsatz keine neuen Erkenntnisse zu Abderhalden gebracht habe. Sträter äußert aber Zweifel daran, ob Abderhalden die beste Adresse für das Geisteswissenschaftliche Zentrum sei, das am 14. Oktober eröffnet werde. „Man benennt eine Straße nicht nach jemanden, weil er sich nichts hat zuschulden kommen lassen. Es geht um ein Vorbild und um eine Identifikationsfigur“, sagt der Rektor.
Die Leopoldina selbst will die Studie nicht als Urteil im Streit um die Umbenennung der Straße verstanden wissen. „Wissenschaft kann Fakten liefern, aber keine Entscheidungen treffen“, sagt Präsident Jörg Hacker. Seine Akademie werde jeden Beschluss des Stadtrates akzeptieren. (mz)