Kampf um Baum Kampf um Baum: Aktivisten protestieren gegen Fällung von 100-jährigem Ahorn

Halle (Saale) - Es ist eine friedliche Demonstration, mit der etwa 35 Hallenser - vom vier Wochen alten Baby bis zur Seniorin - an diesem Montag in der Gütchenstraße ihren ebenso stillen wie wütenden Protest äußern: Seit 7 Uhr morgens sitzen junge Leute und Familien, Mieter und Nachbarn auf bunten Decken vor der blauen Eingangstür des Gründerzeithauses mit der Nummer 20. Mit ihrem Sit-in blockieren sie den Zugang zum Haus - um einen Baum zu retten.
Im Hof des Mehrfamilienhauses steht ein 100 Jahre alter Ahorn, der nach dem Willen des Hauseigentümers an diesem Tag gefällt werden soll. „Aber nicht mit uns“, zeigen sich die Anwohner entschlossen, während ein paar Meter entfernt von den Protestlern Polizisten stehen, dazu mehrere Fahrzeuge eines halleschen Baumservice-Unternehmens.
„Am Freitagmittag haben wir nur zufällig durch das Aufstellen der Parkverbotsschilder mitbekommen, dass der Baum heute abgeholzt werden soll“, erzählt Barbara Engelbrecht, die als Mitglied einer Eigentümergemeinschaft des Nachbarhauses direkt von der Baumfällung betroffen wäre.
100 Jahre alter Baum soll fallen - Anwohner protestieren
„Wir sind entsetzt, dass hier ein gesunder, alter Baum, der höfeübergreifend Schatten spendet, gefällt werden soll - zumal in Zeiten des Klimawandels“, so Barbara Engelbrecht. Jeder Stadtbaum sei für das städtische Klima wichtig. Zudem sei derzeit Brutzeit - ein Grund mehr, den Baum vor der Fällung zu bewahren.
„Dieser Baum leistet einen unersetzbaren Beitrag für ein annähernd gesundes Klima in unserer Stadt“, sagt auch Gabriel Walther. Der hallesche Künstler unterstützt wie zahlreiche andere Hallenser die Protestaktion der Gütchenstraßenbewohner. In dieser Zeit drastischer Klimaveränderungen dürfe kein gesunder Baum mehr gefällt werden.
100 Jahre alter Baum: Anwohner bezweifeln Gutachten für Fällung
Doch nicht nur die erteilte Fällgenehmigung durch die Stadtverwaltung empört die Anwohner. Auch können sie den Grund für die geplante Fällung nicht nachvollziehen: Der in Nordrhein-Westfalen lebende Eigentümer, Ferdinand Prinz zu Sayn Wittgenstein-Berleburg, habe Risse in seinem Haus und Absenkungen festgestellt und ein Gutachten in Auftrag gegeben, das als Grundlage für die Fällgenehmigung diente.
„Angeblich sei der Baum an den Rissen schuld“, so Engelbrecht. Doch das zweifeln die Bewohner an: „Viele Häuser der Gütchenstraße weisen genau diese Risse und Absenkungen auf - auch weit vom Baum entfernte Gebäude“, so Barbara Engelbrecht. Der Grund für Risse im Mauerwerk sei ein anderer: ein unterirdisches Gewässernetz. So fließt im Paulusviertel beispielsweise die „Faule Witschke“, in der Gütchenstraße die „Gütchen“.
100 Jahre alter Baum: Stadtrat will Akteneinsicht
Auch Grünen-Stadtrat und Landtagsabgeordneter Wolfgang Aldag, derzeit in Stuttgart, schaltet sich aus der Ferne in die Angelegenheit ein. In Telefonaten mit der Stadtverwaltung bittet er die verschiedenen Amtsleiter, die Entscheidung noch einmal zu überdenken.
Und auch Aldag meldet Zweifel an dem vorgelegten Gutachten an. „Ebenso sollte die Fällgenehmigung einer genaueren Prüfung unterzogen werden“, so der Grünen-Politiker, der sich zudem dafür einsetzen will, dass die Baumschutzsatzung der Stadt noch einmal genauer unter die Lupe genommen wird. Am Mittwoch will Aldag im Stadtrat Akteneinsicht für den Fall Gütchenstraße erwirken.
100 Jahre alter Baum darf vorerst stehen bleiben
Die Anspannung der Protestler indes ist groß, die meisten von ihnen haben keine Erfahrung im „zivilen Ungehorsam“. Doch die Situation ist ruhig, und während der gesamten Aktion hält sich die Polizei zurück - „was wir als Demonstranten als sehr positiv empfinden“, so Engelbrecht.
Der Protest der Anwohner indes ist von Erfolg gekrönt: Nach Stunden des Wartens sammeln die Baumservice-Mitarbeiter die aufgestellten Schilder einfach wieder ein - und erhalten Applaus für ihre unbürokratische Entscheidung. Den Auftrag könne er unter diesen Bedingungen nicht annehmen, sagt der Chef - und sorgt damit für Erleichterung bei den Anwohnern.
Wenig später kann Barbara Engelbrecht gemeinsam mit Anwalt Volker Kadler verkünden: „Das Gericht hat eine Einstweilige Verfügung erlassen - jetzt haben wir erstmal Luft.“ Das Schreiben erlaubt nun eine Atempause bis zum 30. September. Die Stadt indes, so eine Antwort auf MZ-Nachfrage, „wird die Rechtmäßigkeit der Fällgenehmigung prüfen.“ (mz)
