Ex-Leopoldina-Präsident Abderhalden Ex-Leopoldina-Präsident Abderhalden: Tochter kämpft um den Ruf ihres Vaters
Zürich/MZ - Es hat nie jemand gefragt, nicht am Telefon, nicht per Brief und schon gar nicht persönlich. Hätte Else Vosbeck nicht von ihrem Sohn Klaus erfahren, dass gegen ihren Vater Emil Abderhalden Nazi-Vorwürfe erhoben werden, wüsste die jüngste Tochter des früheren Leopoldina-Präsidenten bis heute nicht davon, dass eine nach ihrem Vater benannte Straße in der Stadt, in der der Biochemiker zwischen 1911 und 1945 wirkte, wegen dessen angeblicher Verstrickung in das Establishment des Dritten Reiches umbenannt werden soll. „Das wird einfach so gemacht, ohne mit denen zu sprechen, die meinen Vater kannten.“
Zerrbild vom Vater
Die gebürtige Hallenserin ist entsetzt, wie sie sagt. „Dass man ihm so etwas antut, wo er sich doch selbst nicht mehr wehren kann“, glaubt sie, „hat mein Vater nicht verdient.“ Als Tochter habe sie einen Emil Abderhalden kennengelernt, der nichts gemein hat mit dem „Zerrbild, das man jetzt von ihm zeichnet“. „Er hat sich immer nur um andere Menschen bemüht, sich sogar so sehr gekümmert, dass unsere Mutter oft gesagt hat, nur für uns bleibt kaum Zeit“, erinnert sich die 90-Jährige, die heute in Zürich lebt. Ein Nazi sei er „sowieso überhaupt nicht“ gewesen - das, sagt sie, „ist einfach eine Lüge, die nur verbreiten kann, wer seinem Andenken schaden will.“
Der gebürtige Schweizer Emil Abderhalden (1877-1950) war Physiologe, Mediziner und Biochemiker. Er lehrte ab 1911 an der Universität Halle und trat 1919 der liberalen DDP bei. Mitglied der NSDAP war er nicht, gehörte aber dem NS-Lehrerbund an.
Von 1932 bis 1950 war Abderhalden Präsident der Akademie der Wissenschaften Leopoldina, der heutigen Nationalen Akademie der Wissenschaften, die letzten fünf Jahre allerdings nur noch formal an der Spitze. Abderhaldens Rolle im Nationalsozialismus ist ambivalent. Auf der einen Seite wird ihm vorgeworfen, dass er die nationalsozialistische Rassengesetze, Zwangssterilisation und die Euthanasie befürwortete. Auf der anderen Seite schlug er während seiner Amtszeit auch jüdische Forscher als Neumitglieder vor, darunter auch Albert Einstein.
Allerdings soll er sich 1938 widerstandlos dem Beschluss gefügt haben, jüdische Mitglieder aus der Akademie zu entfernen. Abderhalden ließ die Streichungen auf den Personalblättern aber mit Bleistift durchführen und nicht mit der für Urkunden üblichen Tinte. 1945 setzte Abderhalden sich in die Schweiz ab, wo er 1950 starb. Trotz seiner schon damals bekannten Rolle im Nationalsozialismus wurde 1946 eine Straße in Halle nach ihm benannt.
Auch sein Ruf als Forscher ist umstritten. Die von ihm angeblich entdeckten „Abwehrfermente“ (eine Art Antikörper bei Reaktionen mit Eiweißen) konnten nicht nachgewiesen werden - was mit Rücksicht auf seinen Ruf unter den Tisch gekehrt wurde.
Die Tochter aber will für den Mann kämpfen, mit dem sie von 1923 an im Haus Nummer 10 der Paulus-Straße lebte, bis die 1943 nach dem bei einem Attentat in Prag getöteten Hitler-Liebling Heydrich neu benannt wurde und nach einer erneuten Umbenennung nach dem Krieg heute Heinrich-Heine-Straße heißt. „Wenn der Stab über jemandem einmal zerbrochen ist“, sagt sie, „wird man ihn ja nie mehr zusammenfügen können.“ Else Vosbeck mag dabei nicht zuschauen. Sie will sich einmischen, um die Wahrheit bekannt zu machen, so wie sie selbst sie erlebt hat und bis heute erinnert.
Denn der Abschied von der Heimatstadt, in der sie aufwuchs, zur Schule ging, eine Ausbildung zur Laborantin absolvierte, ihren Mann kennenlernte und heiratete, ist ein ganz starkes, traumatisches Bild. 1945 haben die Amerikaner Halle besetzt, nachdem eine Bürgergruppe mit dem berühmten Graf Luckner an der Spitze Kapitulationsverhandlungen geführt hatte. „Mein Vater gehörte auch zu diesen Männern, die gesagt haben, es reicht, Frauen und Kinder müssen geschützt werden.“
Emil Abderhalden sei sogar der erste gewesen, der sich angeboten habe, zu den amerikanischen Truppen hinüberzufahren, um eine Bombardierung abzuwenden. „Wäre Luckner nicht gekommen, hätte er das gemacht“, ist Else Vosbeck überzeugt. Umso schlimmer sei, dass seine Rolle heute unter den Tisch falle. „Das passt manchem aber wohl zu gut in den Kram.“
Ebenso wie die Legende, die US-Truppen hätten Emil Abderhalden später „deportiert“. In dem Wort schwinge die Unterstellung mit, die Siegermacht habe dem Wissenschaftler irgendetwas vorzuwerfen gehabt. Das aber, sagt Else Vosbeck, sei vollkommener Unsinn. Vielmehr wiesen die Amerikaner am Ende ihrer kurzen Zeit als Besatzungsmacht in Sachsen-Anhalt zahlreiche Wissenschaftler, Ingenieure und Angehörige der Intelligenz an, ihre Koffer zu packen und sich samt ihrer Familien auf dem Bahnhof einzufinden. „Mein Vater ging eines Abends mit dem Hund seine Runde, da hielt ein Jeep neben ihm und ein Offizier gab den Befehl, dass wir alle auf Transport gehen müssen.“ Emil Abderhalden habe sich nach Kräften dagegen gesträubt, seine Heimat Halle zu verlassen, erinnert sich auch Else Vosbecks Sohn Klaus an Familienerzählungen. Aber vergebens - „er musste gehen“. Ihm tue es umso mehr weh, wenn er Behauptungen wie die lese, sein Großvater habe sich „in die Schweiz abgesetzt“. Klaus Vosbeck ärgert sich: „Das stimmt nicht, wird aber immer weiter hartnäckig behauptet.“
Teil der Geschichte
Es ist Teil der Geschichte des seit vielen Jahren andauernden Streites um Emil Abderhalden, dass es längst nur noch eine aus Klischees zusammengesetzte Schwarzweiß-Figur ist, um die erbittert gestritten wird. Else Vosbeck, die damals miterlebt hat, was sie heute vor lauter Verkürzungen und Verdrehungen nicht mehr wiedererkenne, leidet auch darunter, dass niemand wissen will, wie es und wie ihr Vater wirklich war. Abderhalden habe Halle nicht freiwillig verlassen, er sei aber auch nicht deportiert worden. „Angeblich wollten die Amerikaner uns vor den Russen schützen“, erinnert sie sich. Weil ihr Vater immer wieder betont habe, dass er keine Angst vor den Sowjet-Truppen habe, weil er zahlreiche Kontakte zu Kollegen in der UdSSR besaß, glaubt seine Tochter allerdings bis heute nicht an diesen Grund. Noch 1935 etwa hatte Abderhalden den Russen Iwan Pawlow zum Ehrenmitglied der Leopoldina gemacht. Vosbeck: „Es ging darum, Wissenschaftler in den Westen zu holen, damit sie nicht für Stalin arbeiten können.“
750 Männer und Frauen aus Halle, darunter rund 150 Kinder, fuhren in Güterwaggons Richtung Westen. Fünf Tage dauert die Reise. Else Vosbeck hat ihren acht Monate alten Sohn dabei. Es gibt unterwegs kaum zu essen und Emil Abderhalden, von den Amerikanern zum Chef des Transports ernannt, muss in ständigen Verhandlungen für Wasser und Nahrung sorgen. Eine Rolle, die der Leopoldina-Präsident nach der Ankunft in der Nähe von Darmstadt weiter spielt. „Es war nichts vorbereitet, obwohl es versprochen worden war, keine Arbeit, keine Wohnungen“, sagt Else Vosbeck, „also fing mein Vater wieder an, sich zu kümmern.“
Um seine eigene im Hessischen gestrandete Familie bemüht sich schließlich das Rote Kreuz. Behauptungen, ihr Vater habe sich damals „in die Schweiz abgesetzt“, widerspricht seine Tochter. „Wir kamen nach Zürich zurück, aber unser Zuhause war das nicht.“ Auch Klaus Vosbeck bestätigt, dass die Empfindungen in der Familie andere waren. „Es bestand am Anfang immer die Hoffnung, dass alles vorübergehen würde und man nach Hause zurückkehren könne.“ Erst als klar wurde, „dass dies keine Option war, blieb der Familie nicht viel anderes übrig, als in die Schweiz zu gehen“.
Hier landen Emil Abderhalden, seine Frau Margarethe, Else Vosbeck und ihr damals kaum ein Jahr alter Sohn Klaus „völlig mittellos“, wie Klaus Vosbeck sagt. Die Familie muss von Ruth, der ältesten Abderhalden-Tochter, die als Hilfspfarrerin arbeitet, unterstützt werden. „Auch von Kollegen an der Universität Zürich kam Hilfe“, beschreibt Klaus Vosbeck. Emil Abderhalden habe schwer getragen am Verlust all dessen, was er in mehr als 30 Jahren an der Universität in Halle aufgebaut hatte. „Das war ganz schlimm für ihn“, sagt seine Tochter, „er war fast 70 Jahre alt und hatte alles verloren.“
Die Uni in Zürich fängt den renommierten Biochemiker schließlich auf. „Dort hat man gerade die Nazi-Professoren aus den Lehrstühlen entfernt“, sagt Else Vosbeck, „und eine dadurch vakante Stelle bekam mein Vater.“ Hätte er die erhalten, wenn er, wie seine Gegner behaupten, selbst ein Nazi gewesen wäre, fragt sie. Hätte ihm die Uni in Frankfurt wenig später eine Ehrenprofessur verliehen? Und hätte ihn sein während der Nazizeit wegen seiner jüdischen Ehefrau verfolgter hallescher Professorenkollege Theodor Brugsch wirklich aufgefordert, an die hallesche Alma Mater zurückzukehren?
Ein schweigsamer Mann
Else Vosbeck glaubt es nicht. Ihr Vater habe daheim zwar wenig von seiner Arbeit und den Gewissensnöten gesprochen, die ihn geplagt haben müssen, ehe er etwa jüdische Mitglieder aus der Leopoldina warf. Meist habe man sich nur zum Essen gesehen, danach verschwand der Vater von fünf Kindern in seinem Arbeitszimmer oder Richtung Institut. „Aber wie er über einen Institutsdiener dachte, der zu 200 Prozent Nazi war, das war kein Geheimnis.“
Auch, weil Abderhalden selbst ganz privat in direkten Konflikt mit den Rassegesetzen der Nazis geriet. Für seinen Sohn Rudolf, der nach einer Infektion mit Kinderlähmung behindert war, wagte Abderhalden die Konfrontation mit der Nazi-Führung der Uni. Die verweigerte Rudolf Abderhalden wegen seiner Behinderung Habilitation und Dozentenstelle - bis Vater Abderhalden beides erzwang.
Der gebürtige Schweizer Emil Abderhalden (1877-1950) war Physiologe, Mediziner und Biochemiker. Er lehrte ab 1911 an der Universität Halle und trat 1919 der liberalen DDP bei. Mitglied der NSDAP war er nicht, gehörte aber dem NS-Lehrerbund an.
Von 1932 bis 1950 war Abderhalden Präsident der Akademie der Wissenschaften Leopoldina, der heutigen Nationalen Akademie der Wissenschaften, die letzten fünf Jahre allerdings nur noch formal an der Spitze. Abderhaldens Rolle im Nationalsozialismus ist ambivalent. Auf der einen Seite wird ihm vorgeworfen, dass er die nationalsozialistische Rassengesetze, Zwangssterilisation und die Euthanasie befürwortete. Auf der anderen Seite schlug er während seiner Amtszeit auch jüdische Forscher als Neumitglieder vor, darunter auch Albert Einstein.
Allerdings soll er sich 1938 widerstandlos dem Beschluss gefügt haben, jüdische Mitglieder aus der Akademie zu entfernen. Abderhalden ließ die Streichungen auf den Personalblättern aber mit Bleistift durchführen und nicht mit der für Urkunden üblichen Tinte. 1945 setzte Abderhalden sich in die Schweiz ab, wo er 1950 starb. Trotz seiner schon damals bekannten Rolle im Nationalsozialismus wurde 1946 eine Straße in Halle nach ihm benannt.
Auch sein Ruf als Forscher ist umstritten. Die von ihm angeblich entdeckten „Abwehrfermente“ (eine Art Antikörper bei Reaktionen mit Eiweißen) konnten nicht nachgewiesen werden - was mit Rücksicht auf seinen Ruf unter den Tisch gekehrt wurde.
In Erinnerung geblieben ist der Mann mit dem Bürstenschnitt seiner Tochter denn auch nicht als überzeugter Parteigänger des Hitler-Systems, sondern als „Humanist, der in schwierigen Zeiten versucht hat, seinem Kompass zu folgen“. Dabei habe er sicherlich Fehler gemacht, doch seien es gerade die Fehler, die einen Menschen menschlich machen, glaubt Else Vosbeck. „Er hätte nach Wien gehen können“, sagt sie, „aber als die halleschen Studenten einen Kutschenkorso durch die Stadt machten, damit er nicht weggeht, ist er eben geblieben.“
Ein Pflichtmensch, glaubt sie, der in den Fesseln einer Zeit ging, in der auch für richtig gehaltene Entscheidungen falsch sein konnten. Wenn sie ihren Vater heute vor sich sehe, dann bei einem der Sonntagsspaziergänge an seiner Hand. Die führten die ganze Familie hinaus in die halleschen Kleingartenanlagen, deren Aufbau Emil Abderhalden in den Hungerjahren des Ersten Weltkrieges initiiert hatte. „Wir waren alle zusammen unterwegs, jedes Mal ein richtiger Familienausflug“, beschreibt Else Vosbeck. Und trotzdem habe ihr Vater immer geguckt, „dass alles in den Gärten ordentlich war, dass nichts verlottert und vergammelt.“